Donnerstag, 28. April 2022
GELD UND LIEBE
GELD UND LIEBE

Einst sprach Frau E.

Ein kurzer Roman
von Joachim Lotsch


Einst sprach Frau E.: "Du kannst mich vögeln, wann immer du willst."
Sie blinzelte ihn an. In den Augenwinkeln kräuselten sich die Lachfältchen. Sie warf den Kopf zurück, dass ihr dunkles Haar über die Schultern wippte.
"Auch wenn du spät nach Hause kommst."
Sie wandte sich ab, und unter ihrem dunkelgrauen Wickelrock zeichneten sich ihre Hüften ab. Sie wackelte kurz mit dem Po, drehte sich erneut ihm zu.
"Auch wenn ich schon schlafe."
Sie schaute zu ihm auf.
Ihr Busen schien zu beben.
Er zog die linke Augenbraue hoch und strahlte sie an. Das fand er sehr angenehm und unproblematisch. Frau E. war allzeit gut zu vögeln. Einmal abends, einmal morgens. Sie schlief immer nackt, und sie umschlang ihn mit den Beinen, wenn er zu ihr kam. Sie war auch immer bereit und öffnete sich, ihre feuchte Vagina schien sich nach ihm zu sehnen. Und sie machte immer so ein Geräusch, eine Art Jauchzen, das in ein Gurren mündete, wenn er in sie eindrang. Ein Geräusch, das er als lust- und liebevoll interpretierte. Der Herr war niemals sexuell frustriert, zu jener Zeit.
Wenn es Zeit war aufzustehen, küsste sie ihn zärtlich, streichelte seinen Penis ein wenig und sagte: "Ich geh' Frühstück holen."
Sie nahm die Brieftasche aus seinem Sakko, das über der Stuhllehne hing, und nahm einen Hunderter heraus.
"Bis gleich," flötete sie.
Sie hatte drei Kinder von verschiedenen Männern, und alle hatten Hunger.
Nach drei Jahren sprach Frau E.: "Du musst mich jetzt heiraten, sonst gibt?s keinen Sex mehr."
Das kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Er sog die Luft ein.
Als der Angesprochene, vollkommen perplex, äußerte, dass er sich nicht erpressen lassen könne, und dass er der Ansicht sei, dass er, wenn er erpresst werde, vermutlich gar nicht geliebt werde und damit die Grundlage für eine Heirat entfiele, entgegnete Frau E., sie brauche Sicherheit.
Der Herr hinwiederum zog es vor, auf Sex ohne Liebe zu verzichten und bat, bei dieser Gelegenheit, das geliehene Geld, nicht die ständigen Zuwendungen, nur das ausdrücklich Geliehene, das inzwischen, peu á peu, auf zwanzigtausend angewachsen war, zurückzugeben.
Hierauf sprach Frau E.: "Wieso? ? dafür hast du doch gevögelt."
So gingen beide ihrer Wege, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

© Joachim F. W. Lotsch 1998 (2353 Zeichen)

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Freitag, 8. April 2022
BETON
BETON

Ein kurzer Roman
von Joachim Lotsch


Es ist ein prima Haus, in dem ich wohne. Es ist gut isoliert, innen sehr warm. Ich habe noch niemals die Heizung aufgedreht. So warm ist es. Es hat eine gewisse Systemwärme. Man hört auch kaum etwas von der Nachbarschaft. Es gibt zwölf Wohnungen im Haus. Auf der Südseite Balkone, nach Norden Wiese, man kann da sogar Boule spielen, auf dem Dach der Tiefgarage. Reichlich heißes und kaltes Wasser. Die Klospülung funktioniert auch perfekt.
Wie gesagt: Man merkt kaum etwas von den Nachbarn. Nur, wenn der Sascha, in der Parterrewohnung unter mir, auf der Terrasse raucht, rieche ich das sofort. Gut, ich kann die Balkontür ja zu machen. So schlimm ist das nicht. Außerdem ist er oft gar nicht da. Scheint jedenfalls so. Wenn man nichts hört und sieht.
In der Wohnung über mir wohnt ein junges Paar. Hetero. Also eine Frau und ein Mann. Von denen bemerkt man auch fast nichts. Der Mann geht fast unhörbar. Die Frau höre ich manchmal an den kürzeren Schritten. Und sie tritt fester auf. Hat so einen, ich möchte sagen, bäuerlichen Gang. Sie hat einen französischen Namen. Aber das sagt ja nichts. Ich habe sie nur zwei, drei Mal gesehen. Schönes gewelltes Haar. Irgendwie blond. Im Vorbeigehen Hallo gesagt. Sie auch. Manchmal nehme ich Pakete an. Deswegen weiß ich das mit dem französischen Namen überhaupt. Wenn sie ihr Paket nicht abholt, bringe ich es nach oben und lege es vor die Wohnungstür. Bedankt hat sie sich noch nie. Manche bedanken sich, wenn man Pakete annimmt, klingeln und lächeln dankbar und sagen ein paar nette Worte. Eine Frau, die ganz oben wohnt, hat mir schonmal Pralinen gebracht. Das Datum war zwar schon abgelaufen, aber ich habe es dennoch als freundliche Geste genommen. Hätte ich sie ihr vielleicht vor die Tür knallen sollen? Mit einem Zettel: Die alten Dinger kannst du selber fressen? Nö. Ich habe es dabei bewenden lassen. Im Großen und Ganzen lauter nette Leute im Haus. Wenn man sich im Vorbeigehen sieht, sagt man Hallo. Dieses Grüß Gott ist ja total aus der Mode gekommen. Zum Glück. Ich fand es immer furchtbar. Was geht mich der Gott von anderen Leuten an. Und was geht es andere Leute an, was ich glaube? Oder an wen? Schließlich haben sich die Leute auf der ganzen Welt ihre Götter so ausgedacht, je nach Gegend oder Klima, wie sie es für sich passend fanden - oder für richtig hielten. Also, die Nachbarin von oben, die mit dem französischen Namen, ist ja vielleicht katholisch. Französinnen sind meist katholisch. Im Vorbeigehen, an der Haustür sagt sie Hallo. Ich auch. Mehr weiß ich eigentlich nicht von ihr. Das Einzige, was ich höre, ist, wenn sie auf die Toilette geht.
Denn bei Frauen plätschert das immer ein bisschen. Da setzt sie sich auf die Toilette. Man hört zuerst einen ganz kleinen Pups und dann plätschert's. Klingt echt nett. Dass sie sich die Hände wäscht, hört man schon nicht mehr. Sehr gut isoliertes Haus, wie gesagt.
Obwohl, die Französinnen sind ja nicht soo sauber, heißt es. Oben hui und unten pfui, hat meine Mutter immer gesagt. Und in Deutschland gibt es ja noch nichtmal ein Bidet. Also, wenn eine Frau sich nach dem Klogang aufs Bidet setzt und frisch macht, das ist dann schon lecker.
Aber die Nachbarin kenne ich ja nicht näher. Manchmal hört man auch entfernt Geräusche, als ob sie Sex machen. Aber ich habe noch nie einen Orgasmus von ihr gehört. Vielleicht kann ihr Mann sie ja nicht befriedigen? Wer weiß? Und sie sieht toll aus. So weit man das im Vorbeigehen beurteilen kann. Schlanke Taille, knackiger Po, kräftiger Busen, ohne zu groß zu sein. Große Augen, volle Lippen, Wallehaar, Ende zwanzig. Aber kein Orgasmus, schade.
Also früher, als wir so um die Dreißig waren, da war vielleicht was los. Da sind die Fetzen geflogen. Da haben die Balken geknackt. Aber vielleicht liegt es ja auch nur an den modernen Häusern. Alles Beton und super isoliert. Und dann hörst du nur noch einen kleinen Pups und ein leises Plätschern. Und das war's.

© Joachim F. W. Lotsch (3972 Zeichen)

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Mittwoch, 6. April 2022
MARIE-FRANCE
MARIE-FRANCE

Erzählung
von Joachim Lotsch


Es war noch gar nicht richtig dunkel, an diesem Frühsommerabend. Es mag vielleicht halbneun gewesen sein. Die Tür von der Sieben stand offen. Ein Putzeimer, halb voll mit Schmutzwasser, verhinderte, dass sie zufiel. Ich klopfte an die Tür. "Hallo - jemand da?"
"Was willst du?!" Eine Stimme wie aus dem Keller. Es gab aber keinen Keller in der Schwabinger Sieben. Es war eher eine Baracke aus den Resten eines im Krieg zerbombten Hauses provisorisch hergerichtet und mit einem Flachdach versehen.
Ich stieg vorsichtig über den Putzeimer. Rief nochmals "Hallo". Hinter der Theke kam ein alter Hut hervor. Dann tauchte Ed auf, der sich nun aufrichtete. "Ach du bist es. - Bist aber früh dran. - Willst du 'n Bier?" Ich liebte es, wie er Bierrr sagte, mit seinem amerikanischen Akzent.
Der Ed stand zwischen Kartons und Getränkekisten hinter der Theke. Ich hatte ihn wohl beim Einräumen der Theke für das bevorstehende Abendgeschäft gestört.
"Ja, gern - entschuldige, dass ich störe."
"Du störst gar nicht - ich bin nur noch nicht fertig."
Er zapfte ein Bier und stellte das Glas auf die Theke.
"Danke," sagte ich und setzte mich auf einen Hocker an der Bar. Ich faltete die Süddeutsche, die ich unter dem Arm gehabt hatte, auseinander und breitete sie auf der Theke aus. Er wurschtelte weiter hinter der Theke herum.
Vor zehn Uhr abends war in der Sieben meist nichts los. Die Leute waren noch beim Abendessen oder, wenn es sich um Trinker handelte, waren sie noch im Stehausschank um die Ecke, in der Occamstraße, bei Sissi. Mir war es ganz recht ein bisschen Ruhe zu haben und Zeitung zu lesen.

Der Tag war hektisch genug gewesen. Am Vormittag hatte ich noch an dem Dialogbuch geschrieben und war am Nachmittag in die Produktion gefahren. Diese Filmleute sind immer so hektisch. Und wichtigtuerisch. Zumindest die Aufnahmeleiter. "Super, dass du da bist - komme gleich - muss schnell ins Studio - da läuft schon 'ne Synchro - der Pierre ist stocksauer."
Der Pierre kam dann ins Büro, war aber cool wie immer. Einsneunzig groß, dunkle Augen, dunkle Haare, die in die Stirn hingen. Er strahlte allerdings eine fast gefährlich anmutende Autorität aus, sodass sich seine Mitarbeiter fast in die Hose machten.
Er sah sich meine Arbeit an, schob die Unterlippe etwas vor und nickte. Das war schon mal ein gutes Zeichen. "Wieviel ist es denn geworden?" sagte er. Dann klappte er die letzte Seite auf. "Ah, hundertzwanzig, geht ja noch. - Was kriegst du denn jetzt?"
Für das Übersetzen von Drehbüchern aus dem Englischen und die Erstellung eines Dialogbuchs für die Synchronisation gab es damals normalerweise vierzig Mark pro Seite. Es war aber auch viel Arbeit. Es reicht ja nicht, einfach ins Deutsche zu übersetzen, der Text muss auch ungefähr auf die Labiale passen, und dennoch darf der Sinn der Sache nicht entstellt werden. Gut, beim Schnitt kann man auch noch ein bisschen mogeln. Aber man hat schon ganz gut zu tun, wenn man eine ordentliche Arbeit liefert.
"Vierzig war ausgemacht," sagte ich. "Also vier-acht."
"Ohh," sagte er, "wir haben diesmal ein ganz knappes Budget. - Ich geb' dir vier." Und dann stellte er einen Scheck aus.
Widerspruch zwecklos. Denn, wenn ich jetzt angefangen hätte zu jammern oder mich zu beschweren, hätte ich womöglich keine weiteren Aufträge bekommen. Also biss ich die Zähne zusammen und sah ihm nur tief in die Augen. Er erwiderte den Blick, und in seine Augenwinkel schlichen sich kleine Fältchen; er grinste ein bisschen. Er war sich seiner Macht bewusst.
Ich nahm den Scheck. "Na gut, dann bis zum nächsten Mal," sagte ich.

Natürlich hatte ich mich geärgert. Aber es hilft ja nichts. Ich nippte an meinem Bier. Der Ed machte sich am Plattenregal zu schaffen. Er drehte sich halb zu mir. "Magst du Muddy Waters?" "Oh, ja, leg mal auf." Er zog eine LP aus dem total zerfledderten Cover, legte sie bedächtig auf den Plattenteller und setzte sorgsam die Nadel an. Feinster Blues. "Wow, Mr. Morganfield, klasse," sagte ich.
Ich war noch immer der einzige Gast. Plötzlich schepperte es an der Tür. Der Putzeimer war umgefallen. Eine Frau stand in der Tür. "Entschuldigung," rief sie, "isch hab' das nicht gesehen."
Der Ed kam um die Theke herum und hob den Eimer auf. Dann holte er aus der, dem Eingang gegenüber liegenden, Toilette einen Mopp und sagte: "Hier muss sowieso mal gewischt werden." Dann verteilte er das Wasser gleichmäßig im gesamten Eingangsbereich.
Die Frau stand verdattert. "Komm rrrein," sagte Ed, richtete sich kerzengerade auf, rückte seinen Lederhut zurecht und zog mit beiden Händen die schwarze Weste glatt.
"Es tut mir leid," sagte sie mit leicht französischem Akzent. "Isch bin Marie-France. Ist der Manila da?"
"Nein, der kommt später," sagte Ed und drehte sich um. Er ging wieder hinter die Theke. "Willst du was trinken?"
"Isch weiß nischt." Sie trug Jeans und ein weites gelbes Hemd, das gut zu ihrem hellbraunen Teint passte, und einen Parka darüber. Ihr üppiges, braunes Haar hing über den Kragen. "Wann kommt denn der Manila?"
"Der kommt erst gegen Mitternacht."
"Ah, so, dann komm' isch später. Kann isch meinen Koffer hier lassen?"
"Ja, klar - da hinten." Mit einer Kopfbewegung deutete er die Richtung an.
Sie ging hinaus und kam direkt mit einem riesigen Koffer wieder. Ed wies ihr den Weg. Um die Theke herum und in den hinteren Raum, der früher mal als Küche gedient hatte. Es waren aber jetzt keinerlei Küchenutensilien mehr vorhanden. Es waren nur rundum an den gefliesten Wänden hölzerne Borde angebracht, damit die Gäste, die hier zu später Stunde stehen würden, ihr Bier oder sonstige Getränke abstellen könnten. An der hinteren Seite gab es eine Tür zum Hof, die als Notausgang diente, aber auch um die im Freien deponierten Reserve-Bierfässer zu erreichen. Ein Bierfass stand innerhalb der Tür in der Ecke.
"Da, neben dem Fass, kannst du deinen Koffer hinstellen," wies der Ed sie an.
Sie kam zurück zur Bar, sah mich an, sagte Hallo, zog einen Hocker heran und setzte sich halb. Ein Bein auf dem Boden, eines auf der unteren Sprosse des Barhockers.
"Jetzt hab' ich doch Durst," sagte sie, "kann ich ein Bier haben?"
"Aber selbstverständlich," sagte Ed, befüllte schwungvoll ein Glas und stellte es vor ihr auf die Bartheke.
"Oh, das ist aber ein großes Bier," sagte sie. Ihr Blick richtete sich auf Ed, dann zu mir und wieder zu Ed.
"Das ist hier normal," sagte ich lachend. "In Bayern trinkt man 'a Hoibe."
"Hoibe? Was heißt das?"
"Das heißt eigentlich Halbe, gemeint ist ein halber Liter, demi litre."
"Sprichst du französisch?"
"Ein bisschen, un peu."
"Das ist gut. Vielleicht kannst du mir helfen."
"Gern - wenn ich kann."

Marie-France kam als Kind mit den Eltern nach Nimes in Südfrankreich, geboren war sie in Fez, der Großstadt im Norden Marokkos. Der Vater hatte in Südfrankreich Arbeit gefunden, da er schon in der Heimat für Franzosen, die frühere Besatzungsmacht, tätig gewesen war. An jenem Abend in der Schwabinger Sieben erzählte Marie-France, dass sie bereits in Montpellier begonnen hatte Germanistik zu studieren. Aber jetzt wolle sie sich in München an der Universität einschreiben. In Südfrankreich sehe sie keine Zukunft, und ihr Vater sei eher traditionell eingestellt und wolle sie am liebsten verheiraten, statt sie studieren zu lassen. Sie zündete sich eine Zigarette an. In der Uni habe sie schon am schwarzen Brett geschaut. Jemand habe ihr den Tipp gegeben, in die Schwabinger Sieben zu gehen, da der Wirt, der Manila, ein erfahrener Mann mit guten Beziehungen sei, und er ihr möglicherweise weiterhelfen könne, beziehungsweise dass sie in der multikulturellen Sieben Menschen kennen lernen könne, die ihr weiterhelfen. Sie suche nämlich eine Wohnung oder Leute, bei denen sie wohnen könnte.
Voilà. Zufällig war ich an Ort und Stelle. Ich hatte in der Nähe eine Zweizimmerwohnung, und mein Mitbewohner war erst vergangene Woche ausgezogen.
So kam es, dass wir uns recht angeregt unterhielten, und nach ein, zwei Stunden ihren Koffer nahmen und in meiner Wohnung parkten.
Ich zeigte ihr ihr Zimmer und die Küche und das winzige Bad, und erklärte ihr, dass man immer etwas Geduld haben müsse, bis warmes Wasser kam, weil der Boiler etwas altersschwach war.
Sie fragte, wieviel das Zimmer denn koste. Ich fragte, ob sie mit zweihundert einverstanden sei. Ja, sagte sie, sie würde gleich morgen zur Bank gehen und Geld holen. Kein Problem, sagte ich. So eilig sei es nicht.
Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen.
"Ich muss nochmal weg," sagte ich. "Fühl dich wie zu Hause."
"Merci," hauchte sie.

Ich ging nochmal in die Sieben. Jetzt waren schon einige Leute da. Der Ed frotzelte mich an, ob ich meine neue Freundin versteckt hätte.
"Der zieht hier die Frauen ab und kommt dann alleine wieder."
"Wie?" sagte einer an der Bar.
"Na. Der war vorhin schon mal da. Und dann kam eine Frau rein. Schöne Marokkanerin. Und dann ist er mit ihr abgezogen."
"Boh," sagt der Typ an der Bar.
"Ja, entschuldige mal, mach das nicht so groß, die hat nur ein Zimmer gesucht," wandte ich ein.
"Das kennen wir schon," meinte der mit dem roten Bart.
"Ja, stimmt schon," beschwichtigte Ed, "der Lodge hat recht. Die hat wirklich 'n Zimmer gesucht."
Ich nickte zur Bekräftigung und ging weiter nach hinten, in das Séparée. In die vormalige Küche. Der Tom war schon da, der kleine knubbelige Jurist. Die Tatú, die gewiefte Malerin, die zum Broterwerb mal eben ein Medizinstudium durchgezogen hatte. Und der Sergel, der schöne Filmproduzent, der ein bisschen wie Alain Delon aussah. Der lange Meier und die kleine Mix. Der Ed reichte mir unaufgefordert ein Bier nach hinten.
"Danke dir," rief ich ihm zu. Ich musste die Stimme schon ein bisschen erheben, um gegen die laute Musik anzukommen, ich glaubte das Saxophon von Sonny Rollins zu hören, und das vielstimmige Publikum tat ein Übriges.
"Was hab' ich da gerade gehört?," sagte der Tom, "du ziehst hier heimlich Frauen ab?"
"Also, Tom," sagte ich, "du stehst doch eh nicht auf Frauen."
"Aber zur Gesellschaft schon," sagte er, "und jetzt müssen wir uns wieder die selben Geschichten wie immer erzählen."
Alle lachten. Aber irgendwie hatte er recht. Wir Stammgäste kannten uns seit Jahren, wir wussten über unsere Berufe Bescheid, meist auch über die Partner*innen, oder die Exen, die Verflossenen, die verschwundenen Wohlhaben und die großen Pläne. Wenn dann jemand Neues aufkreuzte, war man immer dankbar über neue Geschichten. Auch schwere Schicksale. Egal. Oder nicht egal. Gerade über ein schwieriges Schicksal konnten sich ja alle das Maul zerreißen. Und jeder konnte etwas besser wissen.
Einmal kam ein Mann aus Südafrika dazu. Es war so ein Burenabkömmling. Und er war ziemlich besserwisserisch und rassistisch. Und ein Angeber. Und kaum setzte der wieder an zu erzählen, wie erfolgreich er war, sagte der Meier jedes Mal: "Halt den Rand." Und dann lachten sich alle schief. Nur er nicht.
Na, und da wäre so eine hübsche Marokkanerin natürlich ein gefundenes Fressen gewesen. Die hätte bestimmt auch etwas Interessantes zu berichten. Und so Mancher könnte mitreden. Über Marokko wussten ja einige Bescheid. Viele hatten da ihre ersten Kif-Erfahrungen gemacht. Als sie in jungen Jahren mit dem Döschwo oder einem Käfer durch die Lande tuckerten. Mein erstes Auto war ein Käfer gewesen. Und runter bis Casablanca gefahren waren, um Rick's Bar zu suchen. Schließlich musste man mal in Rick's Bar gewesen sein, wo Humphrey Bogart gesagt hatte: "Sieh mir in die Augen, Kleines." Und Ingrid Bergmann zum Pianisten: "Spiel's noch einmal, Sam." Und als der vorgab nicht zu wissen, was sie meine: "Play it, Sam. Play As Time Goes By." - Auch wenn es Rick's Bar in Wirklichkeit nur in einem Studio in Hollywood gegeben hatte.

Als ich gegen zwei Uhr nach Hause kam, brannten sämtliche Lampen. Im Flur, im Bad, in der Küche. Die Türen standen offen. Auch in ihrem Zimmer. Doch sie war nicht da. Dann ging ich in mein Zimmer. Auch hier war Licht. Auf einem Teller, den sie als Aschenbecher benutzt hatte, eine Kippe. Da fand ich sie. Sie lag in meinem Bett. Sie schlief. Ich war im Moment etwas ratlos. Sollte ich mich in ihr Zimmer legen? Ich suchte mir ein paar Kleinigkeiten zusammen und wollte schon gehen, da machte sie die Augen auf und sagte: "Viens."
Ich setzte mich auf die Bettkante und sah sie an. Braune Augen, hellbrauner Teint, fast schwarzes, lockiges Haar. "Komm her," sagte sie, "mir ist kalt."
Ich legte mich zu ihr. Aber sie war gar nicht kalt.
Ich dachte, vielleicht ist das der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

In den nächsten Tagen hatte ich gut zu tun. Die Filmleute wollten, dass ich ins Studio komme. Ein Synchronsprecher hatte Probleme, den Text aufs Bild zu sprechen. Ob ich wohl die Takes etwas kürzer fassen könnte, da er mit der Atmung nicht nachkomme. Allerdings hatte ich die einzelnen Takes bewusst so abgefasst, dass sie, wie gewünscht, nicht zu lang aber auch nicht zu kurz würden. Ich hatte sie während des Schreibens auch alle gesprochen, um das richtige Gefühl dafür zu bekommen. Und sie sollten nicht zu kurz sein, denn je kürzer der einzelne Take, desto mehr Takes würden es werden. Und die Schauspieler*innen, die als Synchronsprecher*innen engagiert waren, wurden nach Anzahl der Takes bezahlt. Da lag also der Hase im Pfeffer.
Wenn ich jetzt aber nochmals tätig würde, könne ich das leider auch nicht umsonst machen. Zumal ich noch ein anderes Buch zu bearbeiten hätte. Ich hatte nämlich noch einen Kriminalroman von Heyne auf dem Schreibtisch. Ja, ja, sicherten sie mir zu, du kriegst das auf jeden Fall vergütet. Und der Pierre sicherte mir persönlich zu, dass ich gut bezahlt werden würde. Aber jetzt sei es wirklich eilig. Ob ich denn nicht schnell einspringen könne. Also sagte ich zu.
Die nächsten Tage musste ich immer schon um neun Uhr morgens los und kam erst nach Mitternacht nach Hause.
Marie-France bekam ich kaum zu Gesicht. Sie schien sich gut zu organisieren. War gut gelaunt und freundlich. Das Semester hatte noch nicht angefangen, aber sie hatte sich schon eingeschrieben. Hatte sich Bücher besorgt. Wenn sie mich hörte, kam sie aus ihrem Zimmer, fragte ob ich bei ihr schlafen wolle, oder ob sie zu mir kommen solle.
"Komm zu mir," sagte ich, "mein Bett ist größer."
Dann kam sie zu mir. Sie trug Leggins und einen sehr weiten Pullover. Sie wolle noch eine rauchen, meinte sie. Ob ich mitrauchen wolle.
Ich runzelte die Stirn. "Was gibt's denn zu rauchen?" fragte ich misstrauisch.
"Ah, nur ein bisschen Kif," sagte sie, "aber ganz rein, ein blonder Maroc."
Ich hatte schon länger nicht geraucht. Meine Droge war eigentlich eher Alkohol. Da wusste ich, wie ich sie dosieren muss, um einerseits ein entspanntes Gefühl zu bekommen, andererseits aber nicht gleich die Kontrolle zu verlieren. Alkohol wurde uns schon als Kindern gelegentlich im Elternhaus verabreicht. Wenn die Alten feierten, durften wir Kinder die Neigen aus den Gläsern zuzeln. Meine Mutter war der Meinung, dass man den Alkoholkonsum beizeiten üben müsse, damit man später nicht unter den Tisch getrunken werde. Und genau so wichtig sei es, seine Blase zu trainieren, damit man in einer Gesellschaft nicht dauernd zum Pinkeln rennen müsse. Man stelle sich vor, dass man in einer wichtigen Besprechung sei, bei der natürlich auch alkoholische Getränke gereicht würden. Und da wird verhandelt und gescherzt, dann wieder ganz ernst gesprochen, dann wieder gescherzt, auf das Wohl der jeweils Anwesenden angestoßen. Und endlich, zu vorgerückter Stunde, die Lage wird immer launiger, kommt es vielleicht zu einem geschäftlichen Abschluss. Und du liegst unter dem Tisch oder bist gerade auf dem Klo. "Das geht gar nicht," sagte meine Mutter.
Aber natürlich war ich schon in einige Länder gereist, wo die Sitten andere waren. Wo Alkohol verboten, aber Haschisch erlaubt, oder zumindest toleriert, war. Ich finde es auch durchaus sinnvoll, sich den Usancen der Gegend, in der man sich gerade aufhält, zu eigen zu machen. Man muss nur aufpassen, dass man mit der Dosierung gut zu recht kommt. Speziell, wenn man ein Mittelchen nicht gewöhnt ist. Nicht umsonst gab uns Paracelsus die Weisheit mit: Sola dosis facit venenum. Die Dosis macht das Gift.
Dabei fällt mir ein schönes Beispiel ein, bezüglich der Dosis, als ich mal ganz schrecklichen Schnupfen hatte. Mit Rotznase und sogar leichter Temparatur, aber ich hatte einen wichtigen Auftrag, den ich unbedingt fristgerecht zu Ende bringen wollte. Da ging ich zu einer Schwabinger Apotheke und bat um ein Mittel gegen Schnupfen. Die Apothekerin, eine ganz reizende ältere Dame, sagte: Nehmen Sie doch Rhinopront. Oh, hatte ich gesagt, ist das nicht ganz schlecht? Hat das nicht heftige Nebenwirkungen? Da sagte die Apothekerin: Wissen Sie, wenn Sie fünf Laib Brot auf einmal essen, kann das auch tödlich sein.
In Marokko hatte mir mein Führer, mein Pfadfinder, oder wie man sagen will, Achmed hieß er, als ich da mal für eine Zeitung unterwegs war, erklärt, Kif sei herrlich, wenn eine Kuh es probieren würde, würde sie ihre Haut dafür geben.
Als ich Marie-France das erzählte, musste sie lachen. Das habe sie noch nie gehört. Aber da sei schon was dran. Haschisch sei schließlich eine freundliche Substanz. Sie mache nicht aggressiv wie Alkohol, sondern im Gegenteil friedlich. Zuerst werde man lustig und dann müde. Und dann könne man ausgezeichnet schlafen und am nächsten Tag um so besser arbeiten.
Marie-France saß auf der Bettkante vor dem kleinen, runden Tisch und knipste mit Daumen und Zeigefinger ein Stückchen von der Platte ab und zerbröselte es auf einem Blatt Zigarettenpapier. Dann gab sie von einer zerbrochenen Zigarette etwas Tabak dazu, verteilte alles gleichmäßig auf dem Blättchen, rollte es zusammen und benetzte es mit einer raschen Bewegung ihrer Zungenspitze. Das eine Ende des Joints drehte sie zusammen, dass nichts herausfiele, dass andere stopfte sie mit dem Daumen stumpf zusammen, dass es wie eine Zigarette aussah. Sie zündete den Joint am zusammengedrehten Ende an, nahm einen tiefen Zug und blies mir den Rauch sanft unter die Nase. Es roch angenehm. Ich saß ihr gegenüber auf einem Sessel. Dann reichte sie mir den kleinen Joint. Ich nahm gleichfalls einen tiefen Zug und bevor ich ausatmen konnte, zog sie mich mit einer Hand in meinem Genick zu sich heran, küsste mich und sog meinen Rauch auf.
Und ja, nach kurzer Zeit stellte sich ein entspanntes Gefühl ein. Sie warf mir ein Kissen zu, wir lachten wie die Kinder. Wir kicherten richtig. Sie zog mich aufs Bett, zog mir mein T-Shirt über den Kopf und knöpfte meine Jeans auf. Wir tobten auf dem Bett rum und hatten eine wundervolle Nacht.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich tatsächlich wie neu geboren. Ich ging in die Dusche. Ich war noch gar nicht ganz abgetrocknet, die Haare hingen noch nass auf die Schultern, der Bart tropfte, da kam sie und nahm mich bei der Hand, ich ließ das Handtuch zu Boden fallen, sie zog mich zum Bett und verführte mich noch einmal.

Dieser Sommer war wundervoll. Ich hatte meine neue Geliebte. Ich hatte genügend Aufträge und genügend Geld. Was sollte schon schief gehen. Manchmal gingen wir abends zusammen in die Sieben, manchmal in ein Konzert in der ehemaligen Türkenkaserne, wo es einen Jazzkeller gab, oft auch ins Domicile, eine Jazzkneipe in der Siegesstraße. Der Knauf, der Wirt, reiste oft nach New York, um dort Jazzmusiker zu engagieren, es war ganz große Klasse, Weltniveau.
Manchmal traf Marie-France eine Freundin, die sie aus Nimes kannte. Natürlich hatten sie da wahnsinnig viel zu bereden, und dann blieb sie über Nacht bei ihr.

Ein Freund rief mich eines Tages an. Ein Perser, für den ich als Student manchmal Autos nach Teheran überführt hatte. Meist Mercedes Benz oder BMW, möglichst größere Limousinen, ältere Baujahre, die in Deutschland günstig zu bekommen waren. Gern auch mit Beulen oder Kratzern. Hauptsache sie fuhren noch die, mit Umwegen, knapp fünftausend Kilometer bis Beirut oder Teheran. An den Zielorten gab es genügend erstklassige Mechaniker, die aus der letzten Rostlaube noch eine Luxuskarosse zaubern konnten. Und das zu Preisen, die man sich in Europa gar nicht vorstellen konnte. Und dort waren sie ein Vermögen wert. Jedenfalls rief Houchang an und fragte, ob ich mal wieder fahren möchte. Er hätte fünf Wagen zu überführen, aber selbst keine Zeit mitzufahren. Ich aber würde die Strecke und das übliche Theater mit dem Zoll ja kennen, und wenn ich Zeit und Lust hätte, wäre es toll, wenn ich einen Konvoi für ihn führen würde. Er würde es auch großzügig vergüten. Und wenn ein Iraner großzügig sagt, dann stimmt das auch. Das lässt sich aber auch auf andere Orientalen übertragen.
In jedem Bazaar oder Suk kann man erleben wie gehandelt und gefeilscht wird, und als Europäer bekommt man den Eindruck, dass die Leute immer alles besonders billig haben wollen. Das stimmt aber so nicht. Das Feilschen gehört einfach dazu. Und der erstgenannte Preis ist einfach ein Vielfaches dessen, was eine Sache wert ist. Oder ein Vielfaches dessen, was man zu erzielen erwartet. Und weil das alle Beteiligten wissen, werden verschiedene Preise, die anfangs oft weit auseinander liegen, genannt, bis man sich immer mehr annähert.
Wenn man jedoch in einer befreundeten Situation ist, oder als Gast eingeladen ist, dann wird man fast überschüttet mit Großzügigkeit. Da darf ein Teller nie leer werden. Kein Gast darf hungrig bleiben. Man muss sogar aufpassen, was man sagt, wenn man Dinge schön findet. Vielleicht möchte man ein Kompliment machen, wie toll die Gastgeber sich eingerichtet haben und lobt einen Gegenstand. Ein Bild zum Beispiel. Da kann es passieren, und mir ist das mal passiert, in Teheran, dass sie das Bild von der Wand nehmen und dir schenken. Sofort, spontan. Gegenwehr sinnlos.
Also Houchang sagte, er habe schon mal rein vorsorglich in Teheran ein Hotel für mich gebucht, und wenn ich anschließend noch ein paar Tage Urlaub am kaspischen Meer machen möchte, auch mit meiner Freundin, würde dort ein Gästehaus auf mich warten. Es wäre jedenfalls prima, wenn ich es machen würde, denn mir würde er vertrauen.

Mit diesen neuen Nachrichten kam ich nach Hause. Marie-France saß auf meinem Bett. Ihr Blick war ein bisschen, wie soll ich sagen, ein bisschen traurig.
"Hallo, Chérie," sagte ich und setzte mich neben sie, "was ist los?"
"Ach nichts," sagte sie.
"Würdest du vielleicht mitfahren wollen?"
"Oh ja," sagte sie, und ihre Gesichtszüge hellten sich auf.
"Für die Fahrt, mit Unterbrechung in Istanbul, weil man da zum Zollamt muss, und die sich immer viel Zeit lassen, wenn man nicht gleich mit Bakschisch rausrückt, braucht man ungefähr eine Woche. - Oder zehn Tage, oder so. - Und wenn wir die Wagen in Teheran abgeliefert haben, könnten wir noch eine Woche ans Kaspische Meer fahren. Und für den Rückweg bezahlt uns der Houchang 'nen Flieger. Bis zum Semesterbeginn sind wir jedenfalls längst wieder da."
"Ja," sagte Marie-France.
Aber etwas schien sie zu bedrücken.

Der Gedanke, mal wieder in den Orient zu reisen, beflügelte mich. Mit Houchang hatte ich überlegt, wann die beste Zeit sei, zu fahren. Houchang meinte, sobald wie möglich. Bevor es zu heiß wird. Aber ich hatte noch die Übersetzung des Buchs fertig zu machen. Und im August durch die Türkei zu fahren, wäre verrückt. Also September. Wie wäre es mit September? Da ist es nicht mehr ganz so heiß. "Und bis das Semester anfängt, seid ihr locker wieder da," meinte Houchang.
Ja, das schien auch mir plausibel. Ich erklärte Marie-France die Pläne, fragte sie, wie sie das findet. Ob es auch in ihrem Sinne sei. Ja, der Plan gefalle ihr, meinte sie. Sie sei total gespannt auf Istanbul. Und auch Teheran müsse doch wundervoll sein. Ja, das konnte ich bestätigen. Und ich erzählte ihr von früheren Reisen. Dass die Straßen teilweise nicht so perfekt seien und man auch mal eine Reifenpanne haben könne. Dass einmal ein Fahrer ausgefallen war, weil er bei einer Übernachtung in der hinteren Türkei, in Erzurum, zu viel Raki getrunken hatte. Es war ein junger Schwede, der bei jeder Gelegenheit rauchen und saufen wollte. Und in seiner Heimat waren diese Wünsche nur schwer zu erfüllen, weil sie fast unerschwinglich waren. Und hier, in diesen Ländern, war alles so günstig. Für drei Dollar konnte man eine Flasche Raki kaufen, für fünf Dollar bekam man eine halbe Platte Haschisch, und zwar den schwarzen Afghanen. Der rote Libanese war noch billiger. Jedenfalls hatte er von allem zu viel genommen. Er hatte einen richtigen Zusammenbruch, entleerte sich durch sämtliche Körperöffnungen, zitterte am ganzen Leib und war nicht mehr ansprechbar. Wir fanden einen Arzt, der sogar englisch sprach, und der ihn in eine Klinik einweisen konnte, eigentlich eine Dialysestation, aber besser als nichts. Wir ließen ausreichend Geld da, damit er behandelt werden konnte, der Arzt meinte, es würde drei bis fünf Tage dauern.
Wir organisierten ein Bahnticket für ihn. Von Erzurum nach Istanbul. Dort konnte er zum schwedischen Konsulat gehen und sich weiter helfen lassen.
Wir aber hatten jetzt einen Fahrer zu wenig. Beziehungsweise ein Auto zu viel. Den Benz, den der Schwede gefahren hatte, parkten wir an der Benzinstation. Es war keine Tankstelle, wie wir sie kennen, sondern nur ein Gelände mit übereinander gestapelten Benzinkanistern. Dem Benzinverkäufer mussten wir umgerechnet fast fünfzig Dollar geben, damit wir bei ihm parken durften. Und dass er auf das Fahrzeug aufpasst. Denn sonst hätte es ja abhanden kommen oder zerlegt werden können. Im Autos zerlegen waren die Leute in dieser Gegend sehr gut. Und Ersatzteile waren begehrt.
Wir fuhren dann weiter, über Dogubayazit nach Iran und dann nach Teheran. Houchang hatte, ausgerechnet im German Hotel am Arbab-Djamschid-Platz, ein Zimmer für mich bestellt.
Ein paar Tage später fuhr ich mit Houchang zurück nach Erzurum. Aber auf halbem Wege fiel ihm ein, dass er den Autoschlüssel für den Benz vergessen hatte. Dann fuhren wir zum Flugplatz von Tabriz. Mir war schleierhaft, was Houchang vorhatte. Aber er marschierte ganz selbstverständlich zum Tower und fragte nach dem nächsten Flug nach Teheran, und welcher Pilot da zuständig sei. Und tatsächlich hatte er es nach kurzer Zeit und einer Einladung zum Kaffee geschafft, den Piloten zu finden und ihn zu überreden, in Teheran zu Houchangs Wohnung zu fahren, den Schlüssel zu holen und mit dem nächsten Flug nach Tabriz mitzubringen. Am Abend des selben Tages hatten wir den Schlüssel. Und am nächsten Morgen holten wir den Wagen in Erzurum ab.

Für Marie-France war die Geschichte jetzt wohl ein bisschen zu lang geworden. Sie sagte nur: "Ich möchte jetzt duschen." Sie stand auf und nahm mich bei der Hand. "Kommst du auch?"
Ich kam nur zu gern mit. Vor der Dusche ließen wir unsere Klamotten fallen, gingen hinein und drehten das warme Wasser auf. Es war ziemlich eng in der Dusche. Wir umarmten uns und ließen das Wasser auf uns herab prasseln. Ihre Haut nahm eine bronzene Farbe an, wenn sie nass wurde. Und sie fühlte sich knackig an, nicht ganz so weich wie die weißen Frauen. Und zu mir sagte sie: "Du bist so schön weiß. Wie ein Filet von einer Dorade. Neben dir komme ich mir schmutzig vor."
"Nein, du bist schön. Ich liebe deine Haut."
"Gegen dich bin ich schwarz."
"Quatsch, du bist doch nicht schwarz. Du bist vielleicht wie... Café-Crème... Mit viel Sahne."
Wir wuschen uns gegenseitig ab. Sie lachte mich aus, als sie bemerkte, dass ich sie begehre.
"Was hast du denn hier?" fragte ich. Es war eine kleine rote Stelle an ihrem linken Arm.
"Ach, nichts," sagte sie.
Wir trockneten uns ab, sammelten die Klamotten auf und gingen in mein Zimmer. Dann holte ich aus der Küche eine Flasche Weißwein und aus dem Kühlschrank kleine Schweinswürstel. Ich machte in einer kleinen Pfanne etwas Butter heiß und legte die Würstchen rein. Während dessen schnitt ich ein paar Scheiben Brot ab und richtete zwei Teller her. Nach wenigen Minuten waren die Würstchen braun.
"Schau mal, Chérie, mein Schatz, es gibt Würstchen. Die schmecken fast wie die Merguez aus Nimes."
Sie kostete vorsichtig. Dann sagte sie: "Na ja, nicht schlecht, aber Merguez sind aus Lammfleisch und viel würziger. Bei uns ist da... Hackfleisch vom Lamm und Harissa drin."
"Was ist Harissa?"
"Es ist ein Gewürz... mit Chili und... Koriander und Zimt... und Kräutern."
Wir saßen nackt auf der Bettkante und kauten Würstchen und Brot. Tranken etwas Wein dazu. Dann drehte Marie-France einen kleinen Joint für uns. Wir rauchten und tranken. Dann legten wir uns hin. Wieder fiel mir die kleine rote Stelle an ihrem Arm auf. Wie ein Stich.
"Sag mal, du fixt doch nicht," sagte ich halb spaßig. "Oder?"
"Nur manchmal... Ganz selten."
"Waaas? - Bist du wahnsinnig?! - Machst du dich kaputt?!"
"Nein, nein," stammelte sie. "Es ist nur manchmal so ein Gefühl, dass ich einen Flash brauche. - Aber ich bin nicht süchtig. Ich kann jederzeit aufhören."
"Und wo hast du das Zeug her?"
"Oh, es gibt da so Typen am Chinesischen Turm."
"Das kostet doch einen Haufen Geld."
"Der eine Typ ist total nett. Der hat mir schon mal was geschenkt."
"Weil er dich als Dauerkunden heranziehen will."
"Nein... Das glaub' ich nicht."
"Ich kann dich nur bitten, es nie wieder zu tun, sonst wird es schrecklich enden."
Jetzt merkte sie erst, wie erschrocken ich war. Wie ernst es mir war. Ich flehte sie fast an, es bleiben zu lassen.
"Ja," sagte sie kleinlaut.

In den nächsten Tagen war ich fleißig am Schreibtisch. Marie-France war öfter in der Staatsbibliothek oder bei ihrer Freundin. Am Abend kam sie nach Hause. Aber ich hatte noch keine Zeit. Ich war mit dem Kopf noch bei der Arbeit. Manchmal hängt man. Es geht irgendwie nicht voran. Manchmal schafft man zehn Seiten am Tag, oder noch mehr, ein anderes Mal geht nichtmal eine Seite. Ein schiefer Satz kann stundenlang nerven. Eventuell verkrampft man sich, will eine Formulierung erzwingen, aber es klappt nicht. Klingt zu lapidar. Oder zu gestelzt. Und ich spreche den Text dann auch immer vor mich hin. So sagt das doch kein Mensch, sag' ich mir dann. Und dann hänge ich wieder.
"Jojo, bin wieder da."
"Schön, mein Schatz. Wie geht's. Ça va?"
"Bien."
"Ich hab leider noch zu tun."
"Okay."
Dann verschwand sie in ihrem Zimmer.
Als ich später nochmal nach ihr sah, schlief sie schon.

Ein paar Tage später sagte ich zu Marie-France, ob sie mit in die Sissi kommen wolle. Ich würde den Manfred vom Heyne-Verlag dort treffen. Am späteren Nachmittag.
"Bist du fertig mit dem Buch... mit der Übersetzung?" fragte sie.
"Ja," strahlte ich sie an.
"Bravo," rief sie aus, "das müssen wir feiern!"
"Ja, genau."
Sie fiel mir um den Hals. "Toll, dass du wieder ansprechbar bist."
"Entschuldige... war ich so schrecklich?"
"Ja," sagte sie. "Und dass du mich geschimpft hast, war so furchtbar."
"Wieso geschimpft?... Was meinst du?"
"Na, du weißt schon... wegen dem Zeug."
"Ach ja... aber ich habe mir echt Sorgen um dich gemacht. Weißt du, ich hab' schon Junkies erlebt... wie die dann kurz vor dem Abkratzen sind... und einen anbetteln, um das Geld für den nächsten Schuss zusammenzukriegen..."
"Ich bin kein Junkie," fauchte sie. "Ich hab's nur mal probiert, als ich Depressionen hatte... und da hat's mir geholfen."
"Das ist ja die Gefahr... wenn du das Gefühl hast, dass es in einer schwierigen Situation gut tut... und du den Todesengel nicht siehst, der über dir schwebt."
"Ja, du hast ja recht... ich mach' es nicht mehr... reden wir nicht mehr davon..."
"Okay... ich muss noch ein großes Kuvert finden."
Ich durchsuchte meinen Aktenschrank. Hatte auch bald ein Kuvert für das Skript. Es passte gerade so rein. Fast dreihundert Seiten. Ich zog den Parka an.
"Wird dir das nicht zu warm?" fragte sie. "Draußen ist Sommer."
"Hä?... ach echt?" Ich war die letzten Tage kaum vor die Tür gekommen.
Sie trug schwarze Leggings und ein schwarzes T-Shirt und hatte eine Jeansjacke über die Schultern gehängt.
"Mit den Klamotten werden sie dich aber dauernd antatschen. Da werden die Jungs nervös."
"Hauptsache, ich bleib' cool. Und du musst ein bisschen auf mich aufpassen... Okay?" strahlte sie mich an, schüttelte ihre dunkle Mähne und warf den Kopf in den Nacken. Und sie spitzte die Lippen. - Ich musste sie küssen. Ich liebte sie wirklich.
Ich zog den Parka wieder aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. Ich zog ein weißes Hemd ohne Kragen, beziehungsweise mit nur so einem kleinen Stehkragen, an und stopfte es in die Jeans. Und darüber nahm ich eine schwarze Weste aus Wollstoff. Das Kuvert klemmte ich unter den Arm. Im Bad noch einen Blick in den Spiegel. Mit der Bürste kurz den Bart gestriegelt. Die Haare, die sich am Hinterkopf leider schon etwas lichteten, hingen hinten über den Kragen, aber egal.
"Okay so?... gefall' ich dir?"
"Jaaa," hauchte sie enthusiastisch.
Draußen war tatsächlich Sommer. Die Sonne stand zwar schon sehr schräg, aber strahlte noch kräftig von Westen in die Kaiserstraße. Wir gingen vor zur Leopoldstraße. Links um die Ecke war ein Delikatessengeschäft.
"Guck mal, die Shrimps," sagte ich und zeigte auf die Auslage. "Muss ich jetzt haben... Willst du auch welche?"
"Oui oui, j'aime les Shrimps."
"Zweimal Shrimps, bitte," sagte ich zu der Verkäuferin, "zum hier essen. Und zwei solche Baguette-Semmeln dazu."
"Gern," sagte sie und häufte großzügig Shrimps auf zwei Tellerchen.
"Da müsste man ja fast Champagner dazu trinken," sagte ich. "Champagner haben Sie aber nicht?"
"Nein... leider," sagte sie.
Ich legte einen Zehner auf die Theke, sagte: stimmt so, und wir nahmen unsere Tellerchen mit zu einem der Stehtische. Diese Shrimps mit dem süßsauerscharfen Dressing liebe ich total.
"Boh... lecker," sagte ich.
"Ja, die mag ich auch sehr... und sehr gut gemacht," sagte Marie-France.

Wir gingen dann über die Leopoldstraße und in die Feilitzschstraße. An der Sieben vorbei. Aber die war noch zu. Am Wedekindplatz links in die Occamstraße. Man sah schon von weitem, dass hier Leben war. Einige Leute standen auf dem Trottoir, mit Bierglas in der Hand. Ein sich innig küssendes Pärchen saß auf den Stufen zum Eingang. Und es war noch helllichter Tag. Jemand rief: Habt ihr kein Bett? Wir schlängelten uns durch die Menge, hinein in die kleine Kneipe. Ein mehrstimmiges Hallo begrüßte uns.
"Was mögt's denn?" fragte die Sissi und betrachtete meine Freundin kritisch.
Ich sah Marie-France an. "Was möchtest du trinken?"
"Weißweinschorle, bitte."
"Weißweinschorle," sagte die Sissi, "und du ein Weißbier?"
"Ja, gern."
Wir nahmen unsere Getränke in Empfang und stellten sie erstmal auf der Theke ab. Ein Typ, den ich nicht näher kannte, schlängelte sich heran und sagte: "Na, ihr beiden." Dann drückte er sich seitlich an Marie-France, dass er ihre Hüfte berührte. Dabei sah er mich von unten an, der Kleine. Marie-France sah mich auch an, mit geweiteten Augen, sagte aber nichts.
"Geh mal da von meiner Freundin weg," sagte ich und schob ihn mit einer Handbewegung zur Seite. Er sah mich mit glasigem Blick an und sagte: "Ficken." Und dann schwankte er zur Seite und hielt sich am Fensterbrett neben der Eingangstür fest.
"Ja mei," sagte ich und sah Marie-France entschuldigend an. "Komm, wir gehen nach hinten."
Hinten, beim Kartentisch hatte ich schon Manfred entdeckt. Auch seine Frau, die Bams, war da. Der Nixi spielte Karten, mit noch ein paar Leuten, die ich nicht kannte. Ein Viererwatt. Nixi schien zu gewinnen, wie meistens. Wir drückten uns die Theke entlang, zwischen den Leuten durch. Der Juristen-Tom war auch da. Wir begrüßten uns mit Hallo. Endlich hinten angelangt, konnten wir wieder durchschnaufen. Da war es etwas geräumiger.
"Grüß euch," sagte ich und reichte Manfred unauffällig das Kuvert.
"Ist die Rechnung drin?" fragte Manfred.
"Nein, die schick' ich dir in den Verlag, hab' ich gedacht... Es kam mir zu aufdringlich vor, sie gleich mitzubringen."
"Quatsch," sagte Manfred und lachte verhalten. "Hö, hö, hö."
Wir sahen den Kartenspielern zu. Nixi hatte mal wieder alle Trümpfe in einer Hand.
"Und?... wo ist mein Bier?" sagte er und strich die Karten ein. Die Gegenpartei musste bezahlen. Wir lachten nur.

Draußen wurde es langsam dunkel. Die Kneipe wurde immer voller. Ohne Körperkontakt ging es jetzt gar nicht mehr.
"Wollen wir mal in die Sieben rüber schauen?" sagte ich zu Marie-France.
"Ja, gute Idee," sagte sie.
Wir verabschiedeten uns mehr mit Handzeichen als mit Worten. Die Geräuschkulisse hatte schon einen ziemlich hohen Pegel. Manfred gegenüber deutete ich eine leichte Verbeugung an, mit der rechten Hand auf dem Herz, sollte soviel wie "Vielen Dank für den Auftrag" heißen. Er nickte und hob eine Hand zum Zeichen, dass alles gut sei. Bei Sissi bezahlte ich im Hinausgehen und warf ihr einen Handkuss zu. Dann, endlich wieder auf der Straße, schien Marie-France sehr erleichtert zu sein.
"Und das war jetzt deine Besprechung mit Manfred?"
"Äh... ja."
"Aber Jojo, ihr habt gar nichts gesprochen... oder fast nichts."
"Nun ja... aber wir haben uns gegenseitig unseres Wohlwollens versichert... Und unseres Vertrauens haben wir uns nonverbal versichert... Und wir haben uns gesehen!"
Marie-France kicherte. "Du spinnst."
Wir gingen um die Ecke, in die Feilitzschstraße. Bei der Sieben war die Tür halb offen. Ein Putzeimer stand im Eingang. Wir stiegen vorsichtig drüber und riefen: Hallo. Keine Antwort. Wir blieben an der Theke stehen. Niemand da. Wir gingen wieder hinaus. Der Ed war im Hof. Ich rief ihm zu: "Wir kommen später wieder!"
"Ja, macht das!"
"Lass und ins Domicile schauen. Die machen um acht auf. Vielleicht gibt es schon Musik."
Wir gingen in die Siegesstraße. Die Monika war an der Tür.
"Können wir rein kommen?"
"Ja, freilich."
Immerhin waren wir nicht die ersten Gäste. Wir bekamen an der Theke ein Bier. Also ich. Marie-France bekam eine Weißweinschorle. Die Musiker waren noch beim Sound Check. Aber es klang schon nicht schlecht. Meine Seele jubelte schon.
Wir nahmen unsere Getränke und setzten uns an ein kleines Tischlein in der Nähe des Klaviers. Noch hatten wir genügend Auswahl bezüglich der Sitzplätze. Und wir hatten die Musiker gut im Blick. Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück, streckte die Beine von mir und entließ einen Seufzer aus meiner Brust. Alles erledigt, erstmal. Aufträge abgeliefert. Keine Probleme. Jetzt konnte man ans Vergnügen denken, ans Reisen. Andere Gesichter sehen und andere Geschichten hören. Und wir würden uns noch intensiver kennen lernen. Ich konnte mir vorstellen, mit Marie-France zusammenzubleiben. Wäre doch eine schöne Geschichte: Von der Zufallsbekanntschaft zu einer großen Liebe.
Marie-France sah mich von der Seite an und lächelte liebevoll. "Geht's dir gut, Jojo?" sagte sie.
Es klang total süß, wenn sie Jojo sagte, ein bisschen wie Schoscho.
"Ja, Chérie, jetzt lässt der Stress gerade nach. Alle Aufträge abgeliefert und du an meiner Seite. Was könnte es Schöneres geben."
Sie legte ihren Arm um mich und küsste mich auf die linke Wange.
"Jetzt können wir ans Reisen denken," sagte ich. "Du hast einen französischen Pass, oder?"
Sie nickte.
"Ist der noch mehr als sechs Monate gültig?"
"Weiß nicht," sagte sie.
"Und hast du einen Impfpass?"
"Non."
"Das können wir ja in den nächsten Tagen alles klären. Vielleicht gehen wir zum Tropeninstitut bei der Uni. Da habe ich mich auch schon mal impfen lassen. Und da bekommt man auch einen internationalen Impfpass."
"Ich mache gleich Montag."
"Ich komme da am besten mit. Das machen wir zusammen. Ich muss vielleicht auch eine Impfung auffrischen lassen. Mal sehen."
Hui! - Jetzt blies mir aber der Trompeter ins Ohr. Es ging los. Toll. So gefällt mir das. Wir drehten unsere Stühle ein bisschen nach links, dass wir die Band besser sehen konnten.
Nach und nach füllte sich das Lokal. Friday Night in Schwabing. Internationales Publikum. Sämtliche denkbaren Hautfarben. Die verschiedensten Sprachen. Hier kann man die Welt umarmen. So fühlten wir uns wohl. Und Jazz vom Feinsten.
Der Knauf kam vorbei geschlurft, der Wirt und Musikmanager. Er sprach nie viel, hob nur cool die Hand und nickte einem zu. Ein Bekannter, den ich aus der Sieben kannte, setzte sich nebenan hin. Der Marabu. Ich weiß gar nicht wie der zu seinem Spitznamen kam. Naja, er hatte einen ziemlich dünnen, langen Hals. Ein Franzose. Schien sich auch gleich für Marie-France zu interessieren. Und mein Französisch war nicht besonders. Da konnte ich nicht mithalten. Als er mal zur Toilette war, setzte sich mein Freund Heinz Pfeiffer auf seinen Stuhl. Und als er zurück war und sich wieder setzen wollte, sagte der Heinz: "Oh, war das dein Platz?... Das tut mir aber leid." Aber er stand nicht auf. Was mir ganz recht war.
Es ging schon gegen Elf, und ich bekam Hunger. Außer den Shrimps mit Brötchen hatte wir ja nichts gegessen.
"Hast du auch Hunger," fragte ich Marie-France.
"Ja, ein bisschen," sagte sie.
"Um die Ecke, der Weinbauer, hat bis Elf Küche. Wollen wir da rüber gehen? - Oder willst du lieber hier bleiben?"
"Die Musik ist so schön. Gibt's hier nichts zu essen?"
"Ich frag mal die Bedienung."
Ich ging zum Tresen und erkundigte mich nach Essen, ob sie eine Speisekarte hätten. Das nicht, aber es gebe panierte Schnitzel aus der Friteuse mit Ketchup in der Semmel oder Fleischpflanzerl mit Senf und Semmel. Als ich zurück kam, saß der Marabu auf meinem Platz und quatschte Marie-France voll. Ich verdrehte die Augen, als ich ihn sah. Dann berichtete ich, was es zu essen gab. Ja, ein Schnitzel wäre ihr recht, sagte sie. Ich ging wieder zur Theke und bestellte zweimal Schnitzel. Ob ich drauf warten wolle, wurde ich gefragt. Ja, wenn es nicht zu lange dauere. Nein, nur drei Minuten. Also wartete ich. Und als ich zu unserem Tisch kam, sagte Marie-France zu Marabu: "Kannst du mal Platz machen - für meinen Mann?"
"Oh, pardon," sagte Marabu und ging wieder an den anderen Tisch.
"Du hast 'mein Mann' gesagt, Chérie."
"Ja, bist du doch."
"Das finde ich aber schön. - Jetzt denkt er vielleicht, dass wir verheiratet sind."
"Von Ehe-Mann hab' ich nichts gesagt."
Ich stellte die beiden Teller auf dem Tisch ab und setzte mich. Dann drehte ich mich zu ihr. Sie umarmte und küsste mich. Die Band spielte Fly me to the Moon. Ach, wie schön.
Ein schöner, schwarzer Sänger interpretierte den Blues:
Fly me to the moon / Let me play among the stars...
und dann den Refrain:
In other words, please be true / in other words, in other words / I love you.
Wir applaudierten der Band ausgiebig. Es fühlte sich an, als ob sie für uns gespielt hätten.
Ganz gerührt aßen wir unsere Schnitzel-Semmel.
Kurz nach Mitternacht bezahlte ich. Nur mit Handzeichen, um die Musik nicht zu stören, verabschiedeten wir uns. Dann schlenderten wir durch die laue Nacht nach Hause. Wir liebten uns und waren glücklich uns zu haben.

Das Wochenende verbrachten wir mehr oder weniger im Bett. Mit Blues vom Plattenspieler. Und Schampus vom Discounter. - Obwohl... am Sonntag Nachmittag machten wir einen Spaziergang zum Englischen Garten. Beim Osterwaldgarten überquerten wir den Schwabinger Bach, gingen nach Süden bis zum Milchhäusl und kauften uns dort ein Eis. An der Tierklinik vorbei, gingen wir ins Univiertel, schauten mal, was in den Kneipen in der Türkenstraße los war. Die Sonne schien, die Straßencafés waren rappelvoll. Menschen flanierten. Sehen und Gesehen werden.
Beim Café etc., das wir eigentlich nur 'Das Café' nannten, saßen ein paar Kollegen vom Laubacher Feuilleton.
"Na, bringst du uns 'ne Geschichte?" fragte Detlef.
"Nein, diesmal nicht," sagte ich, "aber ich glaube, dass es bald wieder etwas Interessantes zu berichten geben wird. Ich fahre, beziehungsweise wir fahren..." dabei deutete ich mit einer Kopfbewegung auf Marie-France, "demnächst nach Iran."
"Oh, Iran, Zarathustra, da bin ich schon gespannt. Bring mir ein Buch für Alle und Keinen."
Natürlich hatte der Detlef Bluemler, als, zumindest literarischer, Universalgelehrter, gleich den Nietzsche im Sinn. Der Gedanke gefiel mir.
"Ich werde versuchen, etwas Passendes zu finden," sagte ich.
"Gute Reise," rief er uns nach.
Wir gingen die Türkenstraße runter, am Ende, beim Georgenhof, die Friedrichstraße weiter, wo man am Ende schon St. Ursula sehen kann, die Kirche am Kaiserplatz. Und rechts um die Ecke waren wir zu Hause.

Am Montag telefonierte ich gleich mit Houchang. Wie weit er denn sei. Ob es bei den Plänen bleibe. Er sagte, alles sei bereit, inzwischen seien es sechs Wagen und fünf Fahrer. Und wenn ich soweit sei, könne es losgehen. Ich sagte, dass wir voraussichtlich in einer Woche so weit seien, weil wir noch zum Impfen wollten.
Dann rief ich im Tropeninstitut an, um einen Impftermin zu bekommen. Gleich morgen um neun Uhr wäre gut, ob das recht sei. Ja, sehr gern, sagte ich.
Dann checkten wir unsere Reisepässe. Meiner war noch mehrere Jahre gültig und der von Marie-France auch noch mehr als ein Jahr. Visa würden wir an der Grenze bekommen, gegen eine kleine Gebühr.
Dann die Gepäckfrage. Möglichst wenig, sagte ich. Wenn unterwegs etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, müssen wir unser Gepäck notfalls tragen können. Und wenn wir auf dem Rückweg fliegen sollten, darf es auch nicht zu voluminös sein. "Und komm ja nicht auf die Idee, auch nur den winzigsten Krümel Haschisch mitzunehmen. Die Türken verstehen da keinen Spaß. Und die Iraner auch nicht. Und außerdem gibt es in den Ländern an jeder Ecke was zu kiffen, und billiger als bei uns."
Am Dienstag bekamen wir unsere Impfung. Die Pocken-Auffrischung und eine Mehrfachimpfung gegen Polio, Diphterie, Tetanus und Pertussis und den entsprechenden Impfpass.
Marie-France wollte noch ihre Freundin besuchen und blieb gleich über Nacht bei ihr. Sie hatten ja soviel zu bereden.
Am Mittwoch traf ich Houchang in seinem Büro an der Schillerstraße. Er zeigte mir die Wagen unten in der Tiefgarage. Fünf Benz und ein BMW. Am Donnerstag würden sie bei der Zulassungsstelle die Zollkennzeichen bekommen, und dann müssten wir aber bald los. Denn innerhalb Deutschlands galten die Kennzeichen nur fünf Tage.
"Gut," sagte ich, "dann fahren wir Montag."
"Dann komm Sonntag Abend zum Essen mit deiner Freundin. Wir gehen ins Persepolis beim Stiglmaierplatz. Ihr seid natürlich eingeladen. Und dann geb' ich dir gleich die ganzen Papiere und etwas Geld für die Spesen."
"Super. Ich freu' mich. Ich hab' schon Reisefieber."

Wir nutzten die Tage, unser Gepäck fertig zu machen. Für mich war das nicht schwierig. Fünf Unterhosen, fünf T-Shirts, ein Pullover, eine Ersatz-Jeans und ein Necessaire - und ein Handtuch - und meinen kleinen Wasserkocher. Und was ziehe ich an? Naja, ganz einfach: Jeans, T-Shirt, Parka und einen alten Hut auf den Kopf. Und die Türkei-Landkarte. Bis Istanbul ist es ja einfach. Da ist alles gut ausgeschildert. Aber danach, in Anatolien, östlich von Ankara, das wusste ich noch von früheren Reisen, war es manchmal nicht so einfach, sich zu orientieren.
Alles in einen kleinen Rucksack - und fertig. Einen zweiten Rucksack bereitete ich für die Fahrzeugunterlagen vor. Nachdem Marie-France zu Beginn unserer Beziehung mit einem riesigen Koffer angekommen war, hatte ich schwere Bedenken wegen ihres Reisegepäcks. Ich schaute zu ihr ins Zimmer. Sie hatte überall Kleidung ausgebreitet oder rundum aufgehängt. Sie saß in ihrem Korbsessel und betrachtete die Szenerie.
"Meinst du, du schaffst es?" sagte ich zu Marie-France, "wir sind in ein paar Stunden zum Essen verabredet. Und morgen ist keine Zeit mehr. Da sollten wir einfach unsere Sachen schnappen und losfahren."
"Mach dir keine Sorgen, Jojo, ich schaff' das schon. Ich muss nur alles vor meinem geistigen Auge passieren lassen. Und dann wird rapidó-prestó eingepackt."
Ich warf ihr einen Luftkuss zu und verließ das Zimmer.

Am Abend waren wir pünktlich um sieben im Persepolis. Houchang war schon da und scherzte mit dem Restaurant-Inhaber. Amir war sein Name. Der begrüßte Marie-France und mich formvollendet, mit Handschlag und Verbeugung. Er freue sich, Freunde von seinem Freund Houchang kennenzulernen und in seinem bescheidenen Etablissement bewirten zu dürfen. Ein Freund von Houchang war noch da - Qassem nannte er sich.
Amir hatte schon einen Tisch für uns vorbereitet. "Was wollt ihr trinken?"
Er sah Marie-France an.
"Nur Wasser für mich," sagte sie.
"Mit Gas - oder ohne?"
"Mit Gas - danke."
Dann sah er mich an. Ich sah Houchang an. "Was trinkst du?"
"Ich nehme ein Bier," sagte er.
"Dann nehme ich auch ein Bier."
Qassem wollte Orangenlimonade.
Wir setzten uns an den Tisch. Amirs Frau brachte eine Platte mit Vorspeisen und zwei Körbchen mit Brot. Amir brachte die Getränke.
Houchang sah Marie-France an. "Und Sie freuen sich auch auf die Reise?" sprach er sie an.
Ja, sie sei schon sehr gespannt. Ob sie schon mal in Teheran gewesen sei, fragte er sie. Und er siezte sie ganz respektvoll.
"Nein leider..." sagte sie bedauernd.
Dann schlug er mir auf die Schulter, blickte Marie-France an und sagte: "Wir waren ja schon öfter in Iran."
"Und wie lange kennt ihr euch schon?" fragte er.
"Erst seit diesem Frühjahr," sagte ich.
"Wollt ihr heiraten?"
"Keine Ahnung. Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht."
Marie-France musste lachen.
"Aber..." ich sah Marie-France an, blickte dann zu Houchang, "vorstellen könnte ich es mir schon."
"Dann seid ihr verlobt!"
Houchang erzählte, dass er gestern mit Teheran telefoniert habe. Dort seien seine Mitarbeiter schon darauf vorbereitet, dass wir kommen würden.
Houchang strich zwei Zentimeter dick Hummus auf ein Stückchen Brot.
Wir müssten uns vor Ort keine Sorgen machen. Wir würden zum Hotel gebracht. Alles sei organisiert. Die anderen Fahrer würden ausbezahlt, sagte er kauend, und zum Bahnhof gebracht, von wo sie weiterreisen oder eben zurück fahren konnten.
Er hob sein Glas und nahm einen Schluck Bier.
Und Qassem, hier - der habe die Fahrzeuge gecheckt.
Marie-France und ich griffen herzhaft zu. Die Vorspeisen waren köstlich und liebevoll zubereitet.
Qassem ergriff dann das Wort. Alle Wagen seien in der Werkstatt so weit hergerichtet worden, dass sie die Strecke überstehen sollten. Jeder Wagen habe zwei Reservereifen im Kofferraum und Werkzeug zum Reifenwechsel. Öl und Kühlflüssigkeit müsse ich allerdings unterwegs prüfen. Es seien ältere Baujahre, und immer beim Tanken - bei jedem Tanken - müsse man schauen und eventuell nachfüllen. Aber sonst seien sie technisch okay.
Amir räumte die Vorspeisen ab und brachte neues Gedeck. Seine Frau brachte eine Platte mit gebratenen Fleischscheiben und eine Schüssel mit Reis und eine mit Auberginen-und-Okra-Gemüse. Bei dem Fleisch handele es sich um zuvor mariniertes Kalbfleisch, erklärte er. Eine persische Spezialität - Chelo Kabab.
Houchang gab mir eine Mappe mit Papieren. Fahrzeugscheine, Carnets, Versicherungsscheine mit den grünen Versicherungskarten und die Bescheinigungen vom Zollamt mit den Nummern, die zu den ovalen Fahrzeugkennzeichen passten.
Er und Qassem wünschten uns eine gute Reise und zu Marie-France: "Wie heißt das auf französisch?"
"Bonne Route," sagte sie.

Gegen zehn Uhr abends verabschiedeten wir uns, nahmen ein Taxi und fuhren nach Hause. Marie-France zeigte mir ihr Reisegepäck. Den großen Koffer. Ich muss sie so entsetzt angesehen haben, dass sie sich ausschüttete vor Lachen. Sie konnte sich kaum noch einkriegen. Dann zeigte sie mir eine kleine Umhängetasche, nicht größer als mein kleiner Rucksack. "Da ist alles drin, was ich brauche. Und 'Rei in der Tube'. Damit ich etwas waschen kann."
"Toll, du bist wunderbar."
Wir gingen bald zu Bett und liebten uns. Gegen vier Uhr morgens wachte ich auf. Ich hatte von Mister Gümrük geträumt. Ein türkischer Zollbeamter, den ich immer Mister Gümrük genannt hatte, weil ich mir seinen Namen nicht merken konnte. Der war mir auf einer früheren Reise vom Zollamt in Istanbul mitgegeben worden - von Istanbul bis zur iranischen Grenze - damit ich unterwegs nichts verkaufen könne. Ein misstrauischer Kerl, der mich dauernd erpresste, ihn einzuladen oder etwas für ihn zu kaufen, ansonsten würde er mir Schwierigkeiten machen. Marie-France bemerkte meine Unruhe und kuschelte sich ganz fest an mich. Gegen sieben Uhr standen wir auf. Frühstückten ohne viele Worte. Um acht gingen wir zur Straßenbahn. Fuhren bis zum Bahnhof. Da waren es nur noch ein paar Schritte bis zur Schillerstraße. Vor dem Gebäude standen einige junge Männer.
"Wartet ihr auf Houchang?"
"Ja," sagten sie.
"Ich bin der Jo. Wir fahren dann alle zusammen?"
Sie bejahten erneut und stellten sich einzeln vor. Ein Paul, ein Gerd, beide aus München, ein Willem aus Holland, ein Karl-Heinz aus Wuppertal und ein Icke aus Berlin. Alle um die Mitte zwanzig, Studenten. Außer Icke, der war Monteur, etwas älter, machte Messebau. "Super," sagte ich, "dann haben wir einen Handwerker dabei. Kann nicht schaden. - Und ihr habt alle einen Reisepass dabei, der länger als sechs Monate gültig ist? - Entschuldigt die blöde Frage."
"Ja," murmelten sie gelangweilt.
Qassem kam um die Ecke und ging mit uns zur Tiefgarage. Er gab jedem einen Autoschlüssel mit einem Schildchen, auf dem die Autonummer vermerkt war. Mir gab er einen Beutel mit den Zweitschlüsseln und wünschte gute Fahrt.
Wir stiegen alle in die Wagen. Ich fuhr voraus. Draußen wartete ich kurz, bis ich alle sehen konnte. Dann fuhr ich langsam über den Altstadtring zur Rosenheimer Straße. Kurz vor der Autobahn hielt ich vor der Tankstelle, in zweiter Reihe stehend, an. Ich fragte, ob alle mit ihren Wagen klar kommen. Ob sie alle vollgetankt seien. Ja, alles sei in Ordnung. "Gut," sagte ich, "dann fahren wir einfach. Wir fahren nicht zu schnell, es ist kein Rennen, es ist mehr wie Langlauf, Hauptsache wir kommen an. Alles klar?" Sie nickten. "Wollt ihr an der Tanke noch was kaufen? - Getränke, Zigaretten, oder so?" Ja, das wollten sie und marschierten in die Tankstelle.
"Brauchst du noch was, Marie-France?"
"Non."
Wir blieben bei den Fahrzeugen. Ich machte ein paar Dehnübungen. Marie-France setzte sich in den Wagen, auf den Beifahrersitz. Sie war wohl noch nicht ganz ausgeschlafen. Ich hingegen war kribbelig. Ich wollte los.
Die Jungs kamen zurück.
"Seid ihr schon mal Konvoi gefahren?"
Zwei bejahten, die anderen sagten nichts.
"Also, wir schauen dauernd in den Rückspiegel, ob wir unseren Hintermann noch sehen...
Wenn nicht, werden wir langsamer oder halten notfalls an und warten, bis alle wieder zusammen sind. Okay?"
"Okay," sagten sie.
"Wenn einer ein Problem hat, zweimal Lichthupe und Warnblinker, okay?"
"Okay."
Wir fuhren los. Richtung Salzburg. An der Grenze kein Problem. Nach Süden. Ljubljana. Zagreb. Viele Lastwagen auf der Strecke. Es ging nur langsam voran. Wir mussten tanken. Bei der Raststätte gab es ein Hotel. Die Sonne ging schon unter. Ich beschloss, dass wir hier bleiben. In der Raststätte aßen wir zu Abend.
"Morgen früh um sieben geht's weiter, okay?"
"Okay."
Um sieben trafen wir uns zum Kaffee. Dann gingen wir alle zu den Wagen.
"Richtung Belgrad," sagte ich, "und hinter Belgrad Richtung Sofia, alles klar?"
"Alles klar."
Wieder viele Lastwagen auf der Straße. Dem Tempo mussten wir uns anpassen. Als wir Belgrad passiert hatten, nahm der Verkehr etwas ab. Aber die Straße wurde schlechter. Nach Nisch, Richtung Bulgarien, wurde es bergig und die Straße hatte nur noch Löcher. Dann kam die Grenze. Die Bulgaren waren etwas neugieriger. Alle Türen und den Kofferraum öffnen.
"Gehören Sie alle zusammen?"
"Ja."
"Machen Sie Geschäft?"
"Nein, nur Transit. Türkei. Iran."
"Iran?"
"Ja."
"Kann ich kaufen Mercedes?"
"Nein, der muss nach Iran."
"Papiere!"
Naja, so ging das ein bisschen hin und her. Da muss man einfach Geduld haben. Nach anderthalb Stunden konnten wir endlich weiterfahren.
Marie-France schlief auf dem Beifahrersitz.
Durch Sofia waren wir bald durch. Wir mussten wieder tanken. Weiter Richtung Plowdiw. Es dämmerte schon wieder. Hinter Plowdiw, bei Chaskowo, gab es eine Raststätte mit Hotel, und es war nicht mehr weit bis zur türkischen Grenze. Ich wollte, dass wir möglichst vormittags an die türkische Grenze kommen, damit wir nicht in Zeitnot kommen. Bei den Türken musste man mit langen Abfertigungszeiten rechnen. Zumal wir mit mehreren Wagen kamen. Da witterten sie ein Geschäft. Da würden sie versuchen, uns Bakschisch abzupressen.
Also blieben wir in Chaskowo. Wir bekamen Zimmer. Unten gab es ein Restaurant. Sozialistischer Barock. Koteletts mit Bratkartoffeln und Paprikagemüse. Da kann man nicht viel falsch machen. Der Wirt meinte, dass die Koteletts zu fett waren und wir müssten unbedingt einen Rakia hinterher trinken, zur besseren Verdauung. Die Jungs fanden die Idee auch gut. Also noch ein Bier und noch einen Schnaps. Zumal das alles fast nichts kostete. Marie-France sagte gar nichts mehr. Sie war ganz blass. Wir gingen aufs Zimmer. Sie legte sich gleich hin.
"Ist dir nicht gut, mein Schatz?"
"Nein."
"Was hast du denn?"
"Weiß nicht."
"Kann ich was für dich tun?"
"Nein."
Am nächsten Morgen wollten wir gleich nach dem Kaffee los. Marie-France war immer noch blass. Am Kiosk kaufte ich Mineralwasser und ein paar Sandwichs.
Nach ungefähr einer Stunde erreichten wir die türkische Grenze bei Kapikule. Großer Verkehrsstau. Tausende Lastwagen. Wir wurden in eine der Kontrollgassen eingewiesen.
"Open car - come with luggage - give me passport."
Sie verlangten, dass wir unser Gepäck auf die Tische legten, die neben der Kontrollspur aufgebaut waren. Wir legten alles hin, gaben ihnen die Pässe und die Fahrzeugpapiere. Sie durchwühlten unser Gepäck. Einer der Beamten nahm die Papiere mit und verschwand im Grenzgebäude. Dann wurden wir körperlich abgetastet. Eine Beamtin wurde gerufen, die Marie-France untersuchte. Die Beamtin sagte etwas, was ich nicht verstand. Dann sagte sie, sie solle mitkommen. Marie-France sah mich mit großen Augen an.
"Jojo, was machen die?"
Ich zuckte mit den Schultern. Sie wurde abgeführt.
"Jojooo."
Das war das Letzte, was ich von Marie-France hörte. Noch Jahre hallte dieses 'Jojooo' durch meine Albträume.




NACHWORT:
An der Grenzstation bei Kapikule, kurz vor Edirne, verlangte ich, dass sie meine Verlobte freilassen, weil wir weiter fahren wollten. Wir würden auch nicht in der Türkei bleiben und hier keine Geschäfte machen. Wir wollten nur Transit durch das Land nach Iran fahren. Ein Beamter gab uns unsere Reisepässe zurück. Ich sagte, dass ich hier nicht ohne meine Verlobte wegfahre. Ich nahm meinen Pass, den er mir gerade gegeben hatte und legte einen Fünfziger hinein. Dann gab ich ihm den Pass wieder, mit der Bitte, er solle doch nochmal nach meiner Verlobten schauen. Er ging weg, kam aber kurz darauf zurück und gab mir erneut meinen Pass. Der Fünfziger war nicht mehr drin. Er sagte, dass meine Verlobte schon unterwegs nach Istanbul sei. Ich solle dort zur Polizei gehen. Und er gab mir ein Papier mit der Adresse.
Ich war völlig fertig. Meine Jungs nahmen mich in den Arm und sagten, sie würden mir helfen. Wir könnten nach Istanbul fahren, wie der Zollbeamte gesagt hatte, und dort Marie-France abholen.
Wir fuhren nach Istanbul. In der Nähe von Kapali Carsi, dem Großen Basaar, fanden wir ein billiges Hotel. Am nächsten Morgen fuhr ich zur Polizei. Aber die wussten nichts. Oder wollten nichts wissen. Ich fragte, ob ich etwas für ihre Kaffeekasse geben könne. Da wackelten sie mit dem Kopf. Das sei schon recht. Ich gab einen deutschen Fünfziger. Dann schauten sie an die Decke, blätterten in Akten, doch leider. Ich solle es morgen wieder versuchen.
Am nächsten Tag war wieder nichts zu erfahren. Ich fuhr zum Deutschen Konsulat in Beyoglu, dem sehr westlichen und mondänen Stadtteil. Nach quälender Wartezeit konnte ich einen Beamten sprechen. Ich schilderte ihm den Fall und wie empörend es sei, uns auseinander zu reißen. Und die Polizisten hätte etwas von Uyusturucu, oder so ähnlich, gesagt.
"Das bedeutet Betäubungsmittel... Rauschgift... Da sind die ganz streng... Und sie hat einen französischen Pass?" fragte er.
"Ja."
"Da sind wir nicht zuständig."
"Aber was soll ich denn machen?"
"Gehen Sie zum französischen Konsulat." Er gab mir die Adresse.
Beim französischen Konsulat waren sie trotz aller Verständigungsschwierigkeiten sehr freundlich. Nachdem ich weder gut genug türkisch noch französisch und sie kein deutsch konnten, sprachen wir englisch. Ich erzählte die ganze Geschichte. Gab ihre Daten.
"Wo ist sie geboren? In Fez? Maroc? Da sind wir nicht zuständig. Da müssten Sie zum marokkanischen Konsulat."
"Aber sie hat einen französischen Pass. Und sie wohnte zuletzt in Nimes. In Frankreich."
Ja, sie würden es versuchen, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen und vielleicht auch mit den marokkanischen Kollegen. Ich solle doch übermorgen wiederkommen.
So vergingen die Tage. Ich war verzweifelt. Und ich erreichte nichts.
Mit den Jungs ging ich abends im Bazaar essen. Nachdem ich die ganze Woche nichts erreicht hatte, würde das Wochenende auch nichts mehr bringen. Also beschlossen wir nach Teheran zu fahren. Und anschließend würde ich erneut bei den Behörden in Istanbul nachforschen.
So machten wir es. Wir brauchten noch drei Tage durch die anatolischen Berge und fast alle unserer Reservereifen. Als wir von Karadsch kommend in Teheran in die Avenue Ferdowsi einbogen, hupte uns ein Motorradfahrer wild an. Er schrie und fuchtelte mit den Armen. Unsere Kolonne war aber auch kaum zu übersehen, wie wir da, offensichtlich suchend, im Schritttempo dahin zuckelten. Ob wir von Houchang kämen. Ja klar. Dann folgt mir, deutete er an. Wir fuhren hinter ihm her. Bei einem größeren Gebäude bog er rechts ein. Es ging direkt in eine Tiefgarage. Sechs Männer standen bereit. Sie nahmen gleich die Kennzeichen von den Wagen ab. Sie bedankten sich. Einer sprach englisch. Sie würden uns zum Hotel bringen. Und das war's.
Obwohl ich die nächsten Wochen und Monate damit verbrachte, Marie-France zu finden, erst nochmal in Istanbul, dann von München aus, hatte ich keinen Erfolg.


© Joachim F. W. Lotsch (61305 Zeichen)

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Dienstag, 5. April 2022
DER TOM UND DIE STEINSUPPE
DER TOM UND DIE STEINSUPPE

Erzählung
von Joachim Lotsch


Der Tom saß mit einigen Leuten auf einer Bank an der Sonnenseite vom Wintergarten beim Markt in Schwabing und sie redeten über die bevorstehenden Wahlen in Hessen, über Macht und Ohnmacht, Recht und Gerechtigkeit. Das Recht bestehe doch einfach aus Spielregeln, die von Menschen gemacht werden, murmelte der Tom, und Gerechtigkeit sei nur eine Fiktion. Man könne bestenfalls versuchen, eine Mehrheit für einen Konsens zu gewinnen, um gemeinsam etwas Brauchbares zu generieren.
Auf einmal wurde ihm das unqualifizierte Gerede der Leute zu dumm, und er erhob sich, schnippte seine Kippe mit Krümeln der letzten Ernte weg und sagte: "Mir ist jetzt nach Steinsuppe."
Den Anderen blieb der Mund offen stehen. Steinsuppe? ... Tom schob die Unterlippe vor, senkte den Kopf, dass seine von Silberfäden durchzogenen schwarzen Locken in die Stirn fielen und sagte mit dem Ernst des ehemaligen Juristen: "Na klar. Steinsuppe. Köstliche Sache."
Vom Taxistand an der Ecke war gerade der Nick herübergekommen und griente: "Was hab ich da eben gehört? Steinsuppe? Machst du Witze?"
Zeus lachte laut auf. "In Oberhausen hamse natürlich keene Steinsuppe..." Nick machte eine Kopfbewegung, die zur Folge hatte, dass seine zwar schon etwas dünner werdenden, aber doch zumindest zur Brust reichenden Haare rückwärts über die Schulter schlenkerten. Er müsse gerade reden. Als Zugereister und Restphysiker 'ne große Lippe zu riskieren. Ob er denn wisse, was es mit der Steinsuppe auf sich habe.
Zuagroaster heißt das hier, warf Wolfi ein. Sein Akzent roch deutlich nach Nordsee. Die Einheimischen beschränkten sich weitestgehend auf das Marktpersonal.
"Nee." Zeus ließ sich, wie immer, in seinem Redefluss nicht beirren. "Aber wenn der Tom Steinsuppe sagt, dann gibt's eben Steinsuppe. Letztes Jahr war´s Alpenglühen. Jetzt gibt's vielleicht Steinsuppe, wat wees denn ick."
Um Toms rechten Mundwinkel bildete sich jene kleine Falte, die in einem Grübchen mündete und schon viele Frauen schwach werden ließ. Gewisse Damen schwärmten noch ein halbes Jahrhundert später davon. Und dann war er natürlich schon immer die Contenance in Person.
Nein, mit dem Alpenglühen habe das jetzt nichts zu tun. Man brauche einen großen Topf mit Wasser, den müsse man aufs Feuer setzen. Bedächtig griff er in seine rechte Jackentasche und brachte einen flachen, etwa handtellergroßen, weißen Kieselstein zum Vorschein. Und diesen Stein werde er in die Suppe legen, seinen Suppenstein, das gebe eine vorzügliche Suppe.
Ungläubiges Gemurmel... Vom Nachbartisch ein verlegener Lacher, der auf Unkenntnis schließen ließ.
Man könne ja rüber gehen zur Rheinpfalz, vielleicht würde die Barbara einen Topf zur Verfügung stellen, dann werde er es gerne vorführen.
Tom erhob sich, blinzelte in die untergehende Sonne, überquerte die Fahrbahn, bog beim Theater um die Ecke, erreichte nach hundert Metern die Kneipe. Die Tür stand offen. Es roch nach Asche, kaltem Bierdunst und Reinigungsmitteln. Klaus begrüßte ihn mit seinem Mick-Jagger-Grinsen. "So früh schon, Tom." Und dann verteilte er Aschenbecher und kleine Kerzenständer auf den zehn Tischen des Lokals. Seine rechte Hand zitterte, als er Kerzen in die gläsernen Halter presste.
Hans war noch grau unter dem schütteren Blondhaar. Nach Mitternacht würde er ganz anders aussehen, lebhaft sein, rotbackig bis zum Morgen mit seinen Gästen diskutieren, vielleicht ein Stückchen auf der Trompete spielen, den einen oder anderen Witz zum besten geben, mit erhobenem Zeigefinger seine Richtigkeit unterstreichen. Jetzt stand er hinter der Theke mit den vier Zapfhähnen. Er stützte beide Fäuste auf die verchromte Schankfläche. Über dem frischen Hemd trug er seinen karierten Pullunder, der den Bauch betonte. Er starrte geradeaus in das noch leere Lokal und sagte nur: "Servus, Tom."
Tom strebte direkt zur Küche, wo leichtes Klappern zu vernehmen war. Barbara war soeben erst vom Einkaufen gekommen. Der offene, schwarze Mantel betonte ihre grandiose Oberweite und verschlankte ihre Hüften, die im Verlauf ihrer dreißigjährigen Karriere von der Politikwissenschaftlerin zur Kneipenköchin pompöse Ausmaße angenommen hatten.
Tom schätzte ihren leicht unterkühlten Esprit, der sich mit enormem Wissen paarte. Es kam oft vor, dass die alten Männer, die einstigen Rebellen und Geistesgrößen von 68, am Tresen stehend uneins waren. Etwa über die lebenswichtige Frage, wie die Schwester von Carl Friedrich Gauß hieß. Hieß sie Dorothee? Oder Leonore? Einige waren für Dorothee. Andere für Leonore. Einer meinte Anna. Bald schlug einer vor: "Da müssen wir die Barbara fragen."
Dann wurde die Barbara aus der Küche herauskomplimentiert und an die Theke gebeten, und es wurde ihr die Frage vorgelegt. Es dauerte keine Sekunde bis Barbara mit sonorer Stimme und beinahe ungeduldig antwortete: "Gauß war Einzelkind. Der hatte keine Schwester. Seine Mutter hieß Dorothea." Leicht den Kopf schüttelnd über die lapidare Frage und die Unwissenheit der Jungs am Tresen, drehte sie sich um und marschierte wieder schnurstracks in ihre Küche. "Siehste, Dorothea," sagte dann einer. Und ein anderer: "Ja, aber die Mutter, der hatte keine Schwester."
Tom stand mit einem Bein in der Küche. "Was gibt's denn heute zu essen?"
"Ich muss erst noch die Karte machen."
"Aber du hast doch bestimmt schon was fertig."
"Also, Tom, bei mir gibt's immer alles frisch. Das solltest du doch wissen."
"Na ja, ich meine, falls du am Herd eine Flamme frei hast... ich würde nämlich gerne was machen."
"Wie, was machen?"
"Na ja, was kochen."
"Was kochen? Seit wann kannst du kochen? Und überhaupt! Wie stellst du dir das vor? Wenn gleich die Gäste und dann zwanzig Bestellungen auf einmal kommen, brauche ich alle Flammen."
"Oder einen Topf?"
"Was für einen Topf?"
"Irgend einen großen Topf."
"Und was willst du mit dem?"
"Steinsuppe machen."
"Steinsuppe ma... ?"
Tom legte den Kopf schräg, machte sein verführerischstes Grübchen und nickte.
"Steinsuppe? Machst du Witze?"
"Nein, das ist klasse."
"Kommt überhaupt nicht in Frage. Die Küche ist viel zu klein."
Inzwischen hatte sich beim Markt herumgesprochen, dass der Tom heute in der Rheinpfalz kochen würde. Manche meinten, das sei doch nur ein Scherz. Die Barbara würde doch niemals jemand in ihre Küche lassen. Der Hugo von der Theaterbar, der alte Zocker, der selbst ganz gut kochen konnte, meinte: "Der Tom? Wenn der Tom kocht, dann komm' ich auch."
Die Kalisha von der BarCulina, auf der anderen Ecke, die üppige, schwarze Schönheit mit den hüftlangen Dreads, die die Gäste von der Rheinpfalz verköstigte, wenn dort der Hans zu vorgerückter Stunde verkündete: "naus jetza", weil er das Lokal schließen und mit einer Dame in der im ersten Stock über der Wirtschaft befindlichen Wohnung zu Bett gehen wollte, fragte, was der Tom denn Besonderes kochen wolle. Und was das denn sei, die Steinsuppe.
Man wisse es auch nicht so genau, wurde sie beschieden, aber der Tom habe einen Stein, mit dem man angeblich Suppe machen kann. Anscheinend habe der Tom den Stein von einem irischen Mönch geschenkt bekommen, den er in Goa getroffen habe, als er vom Geheimdienst den Auftrag hatte, in Indien nach einem verschollenen Mädchen zu suchen. Als er nach monatelanger Suche alle seine Mittel aufgebraucht hatte und kaum noch hoffen konnte, seine Mission zu erfüllen, habe er das Mädchen völlig ausgezehrt am Strand in der Nähe von Anjuna gefunden. Dort, an der Sklavenküste der vormals portugiesischen Kolonie in Indien, habe der irische Mönch ihnen beiden das Leben gerettet, indem er ihnen das Geheimnis der Steinsuppe verraten habe. Und dann, als sie wieder bei Kräften waren, habe er Tom den Stein geschenkt, den er seither immer bei sich trage.
"Ich komme auch," sagte Kalisha leise.
Der Mann, der seinen Metzgereistand gerade abgeschlossen und mitgehört hatte, meinte, dass das doch wohl ein "Schmarrn" sei. "Aber des schaug i mir o."
In der Rheinpfalz waren inzwischen die ersten Gäste eingetroffen. Hans, der Wirt, zapfte Bier. Klaus, der Kellner, servierte es auf der Theke, auch wenn es nur eine Armlänge vom Zapfhahn entfernt war. Sieben Herren und eine Dame bedankten sich jeweils artig, denn sie hatten größtenteils eine gute Kinderstube genossen. Und wenn es jemanden gab, dem dies nicht vergönnt gewesen war, so tat er oder sie es zumindest den anderen nach. "Ein Bier, Herr Doktor." "Vielen Dank, lieber Klaus." "Herr Professor, eine Gerstenkaltschale.?" "Besten Dank, Herr Hofberichterstatter." Denn der Klaus hatte früher einmal Journalistik studiert, es aber vorgezogen ein freier Mann zu bleiben, wenngleich Freiheit ihren Preis hat.
Hans begrüßte den Mann, der beim Betreten des Lokals den gesamten Türrahmen füllte, mit "Gott zum Gruß, Herr Präsident," denn er war vom Steinmetz über den allseits bekannten Großbildhauer zum Leiter der Akademie der Bildenden Künste aufgestiegen. Der revanchierte sich mit "Habe die Ehre, Herr Obermusikdirektor," wenngleich der Hans kein staatlich geprüfter Kapellmeister, sondern Betriebswirtschaftler mit einigen Musiksemestern war, es aber verstand, in seinem Wirtshaus immer wieder großartige Live-Musik-Veranstaltungen zu organisieren.
Am Mitteltisch, vor dem Klavier, ließen sich die ersten Mitglieder des Vereins gegen Vereinsgründung nieder. Barbara, aus der Küche kommend, schritt zur Theke, um aus einer Kiste hinter derselben eine Flasche Rotwein zur Verfeinerung einer Soße zu holen und sich anzuschicken wieder in ihrem Reich im hinteren Teil der Lokalität zu verschwinden. Mit einer weißen Haube und weißer Schürze glich sie jetzt mehr einer Hebamme als einer Köchin. Der Gedanke an Geburtshilfe war dabei gar nicht so abwegig, verhalf sie doch manch köstlichem Mahl dazu, das Licht der Welt zu erblicken.
"Ach, ähm, Barbara, ich habe gehört, dass der Tom heute was kocht."
Barbara hielt inne und wandte sich dem Frager zu. "Ich habe dem Tom schon gesagt, dass die Küche für so eine Aktion zu klein ist. Und erst mal muss ich meine Essen verkaufen."
"Heißt das, dass der Tom nachher in die Küche darf?"
"Na ja, jetzt schaumer mal."
"Schau mer mal, dann seng mas scho." Das war typisch Franz. Einer seiner Lieblingssprüche. Immerhin hatte er im Lauf der Zeit gelernt Geduld zu haben.
Barbara verschwand wieder in der Küche. Kurz darauf war ein Ping zu hören. Das erste Essen stand in der Durchreiche der Küchentür. Klaus eilte herbei, und zum Zeichen, dass es jetzt losgeht, deutete er ein Riff auf einer imaginären Gitarre an und machte sein Mick-Jagger-Gesicht, was ihm nicht schwer fiel, denn er sah dem Boss der Stones tatsächlich etwas ähnlich. Besonders, wenn er dann auch noch die Zunge heraus streckte.
Klaus servierte das Essen mit hanseatischem Charme. "Böfflamott, voilá." Das sagte er fast triumphierend, als habe Sankt Pauli gegen Bayern gewonnen.
Und wieder Ping.
Klaus holte das nächste Essen und servierte.
Und wieder Ping.
Der Tom saß auf einem Barhocker, an der Seite der Theke, die der Eingangstür zugewandt war, mit dem Rücken zur Tür, ein Bier vor sich. Er wirkte ganz entspannt, den Rücken leicht gekrümmt unter der schwarzen Jacke, den rechten Arm angewinkelt auf den Tresen gestützt. Das spärliche Licht erzeugte Schatten in den Furchen der Erfahrung, die sein Gesicht durchzogen. Doch die Augen waren hellwach.
Was denn nun mit seiner Suppe sei. Es seien einige Leute eigens wegen seiner Steinsuppe gekommen. Und tatsächlich. Das Lokal war ungewöhnlich voll, für die Tageszeit. Normalerweise kamen einige Leute zwischen sechs und acht, um zu Abend zu essen, dann wurde es etwas ruhiger, und gegen Mitternacht füllte sich das Lokal erst richtig. Dann kamen die Durstigen, die zuvor anderweitig beschäftigt waren.
"Wart mal ab," sagte er nur.
Es war gegen halbzehn, als Barbara aus der Küche kam. Sie ging zur Theke, blieb zwischen Tom und einem anderen Gast stehen. Hans stellte das Bierglas, das er soeben füllen wollte, unter dem Zapfhahn ab und brachte ein Schmunzeln zustande.
"Ja?"
"Gib mir ein Glas Wein."
Das Schmunzeln ging in ein breites Grinsen über. Normalerweise machte Barbara bis elf Uhr abends Küche, dann räumte sie auf und machte sauber. Und zwischen halbeins und eins kam sie an den Tresen, um ein Glas Wein zu trinken, bevor sie nach Hause ging. Jetzt blickte sie vorwurfsvoll zu Tom, der zu ihrer Rechten auf dem Barhocker thronte. Der erwiderte ihren Blick lächelnd, mit Grübchen in der rechten Wange, sagte aber nichts. Hans reichte ihr den Wein. Sein Blick verriet, dass er mehr wusste, als er bereit war zu äußern.
"Bitte sehr."
"Danke," erwiderte Barbara in einem Tonfall, der einerseits von ungebrochenem Selbstbewusstsein zeugte, andererseits ihren Ärger zum Ausdruck brachte.
"Ist irgendwas?", fragte Hans scheinheilig.
"Die nerven mich dauernd mit dieser blöden Steinsuppe." Und dann zu Tom: "Was soll denn das eigentlich?"
Tom schmunzelte nur. Er war kein Freund überflüssiger Worte.
"Die Leute bestellen nichts mehr von der Karte, die wollen plötzlich alle Steinsuppe. Was soll denn das überhaupt sein? Und wie kommst du dazu, mir ins Handwerk zu pfuschen? Dich womöglich meiner Küche zu bemächtigen?"
Jetzt verstummte das Gemurmel an der Theke. Alle wandten sich Barbara zu. Sogar Nick war noch da, der sich normalerweise ein Essen aus Barbaras Küche zubereiten und einpacken ließ, um gegen acht das Lokal wieder zu verlassen und sein Mahl im Haus nebenan, wo er wohnte, zu sich zu nehmen.
"Entschuldige, Barbara, aber im Wintergarten haben sie erzählt, dass der Tom heute Steinsuppe macht, und da war ich einfach neugierig."
"Da hast du's, Tom! Wie kommst du dazu...?"
"Also, jetzt pass mal auf," sagte Tom, "ich habe nur gesagt, dass mir nach Steinsuppe sei, und als die Anderen nachhakten, habe ich gesagt, na ja, vielleicht stellt uns ja die Barbara einen Topf zu Verfügung. Mehr nicht. Und als ich kam, habe ich dich gefragt. Und du hast nein gesagt. Dass die jetzt alle gekommen sind und Steinsuppe wollen, dafür kann ich nichts."
"Und was ist Steinsuppe?"
Toms rechte Hand glitt in die rechte Tasche seiner Jacke. Vorsichtig, als sei er sehr zerbrechlich, nahm er den flachen, weißen Stein heraus und legte ihn vor Barbara auf die Theke. Dann griff er mit der linken Hand in die linke Tasche seiner Jacke, nahm einen Zellophanbeutel und ein Päckchen Papier heraus, nahm ein Büschel Tabak aus dem Beutel, streute die schwarzen Krümel auf ein Papierblättchen, rollte dieses zusammen, benetzte die Gummierung der Länge nach mit der Zunge und steckte die Zigarette zwischen die Lippen.
Er sah sich suchend um. Hans gab ihm Feuer. Er nahm ein kräftigen Zug und blies den Rauch in die Luft.
"Ja und?" Langsam wurde Barbara ungeduldig.
"Das ist mein Suppenstein."
"Für mich sieht der aus, wie ein Kieselstein aus der Isar."
"Das Aussehen ist nicht entscheidend."
"Sondern was?"
"Was man damit macht."
"Aha, und du machst damit Suppe?" Barbaras logischer Instinkt schlug Alarm. Das konnte doch nicht sein. Einen Stein auskochen, um daraus Suppe zu machen. Sie war ja allerhand gewohnt von den Gästen. Selbstüberschätzungsbedingte Skurrilitäten, trunkenheitsbedingte Verrücktheiten, frustrationsbedingte Aggressionen, präkariatsbedingte Betrügereien...
"Ja. - Klar. - Das ist zunächst Physik."
"Was heißt zunächst? Was kommt danach?"
"Metaphysik."
"Ah, soll das eine metaphysische Suppe werden"
"Nein. - Nur Suppe."
Sie nahm den Stein in die Hand, drehte ihn um, besah ihn von allen Seiten. "Du kannst mir nicht erzählen, dass du aus diesem Stein eine schmackhafte Suppe machen kannst, indem du ihn einfach auskochst."
"Von einfach habe ich ja auch nichts gesagt."
"Also steckt irgendein Trick oder Witz dahinter."
"Eigentlich nicht."
"Sondern?"
"Solidarität."
"Versteh ich nicht."
"Man braucht einfach einen Topf mit kochendem Wasser. Dann legt man den Stein hinein..."
"Das gibt heißes Wasser, aber keine Suppe."
"Der Mönch, der mir den Stein gegeben hat, hat das genau so gemacht. Der kam aus Irland. Und er hat es bis nach Indien geschafft, als ich ihn traf. Er hat Wasser gekocht, mit dem Stein. Dann nahm er einen Löffel und probierte davon und stellte fest, dass es schon ganz köstlich sei, jedoch noch etwas besser schmecke, wenn man ein bisschen Salz hinzu gäbe. Jemand ging Salz holen, er schüttete es hinein, rührte um, kostete wieder, stellte fest, dass die Suppe jetzt noch besser sei, aber es noch feiner wäre, wenn man Gemüse hinzu gäbe. Inzwischen waren immer mehr Leute aus der näheren Umgebung gekommen, um zu sehen, was der weiße Mann mit der seltsamen Kutte am Strand kocht. Und sie schickten die Töchter in die Hütten, um Gemüse zu holen. Das wurde dann ebenfalls in die Suppe gegeben. Der Mönch rührte wieder um, kostete, zeigte sich begeistert von der Steinsuppe, fügte aber leise an, dass ein Stück Fleisch zur absoluten Geschmacksvollendung führen würde. Die Tochter des Mannes, dem der rechte Arm fehlte, wurde geschickt, und diese brachte ein halbes Huhn, das vom Vortag wohl übrig geblieben war. Das Huhn kam jedenfalls auch in die Suppe, und der Mönch rührte wieder um und ließ die Suppe so lange kochen, bis das Fleisch des Huhns von den Knochen fiel. Dann kostete er wieder, sprach ein Gebet in Gälisch, faltete die Hände vor der Brust, wie man es in Indien tut, und dankte den Göttern und allen Anwesenden mit einem Namastée. Dann lud er alle ein, gemeinsam zu essen, und alle waren begeistert und wurden satt."
"Dann war das aber eine Gemüsesuppe mit Fleischeinlage..."
"Das war Steinsuppe - mit ein paar Zutaten."
Tom zupfte ein Büschel Tabak aus dem Zellophanbeutel, verteilte ihn auf einem Papierblättchen, rollte das Blättchen mit dem Tabak zusammen, benetzte die Gummierung des Blättchens mit der Zungenspitze, schloss dann das mit Tabak gefüllte Papierröllchen mit einem Fingerstrich, knipste die an den Enden überstehenden Tabakfäden mit den Nägeln von Daumen und Zeigefinger ab, steckte das Röllchen zwischen die Lippen, blickte jetzt auf und sah sich einem Dutzend auf ihn gerichteter Augenpaare gegenüber. Jemand gab ihm Feuer. Tom inhalierte den Rauch der verbrennenden Krümel und ließ ihn durch die Nase wieder austreten.
Es war ein fast andächtiger Moment, bis Hugo das Schweigen brach. "Und - Machst du jetzt Suppe?"
"Kennst du den Unterschied zwischen Physik und Metaphysik?"
Barbara schwieg.
"Machst du Steinsuppe?"
"Nein," sagte der Tom.

© Joachim F. W. Lotsch (18323 zeichen)

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