Montag, 23. Mai 2022
DAS HAUS AM RIO
DAS HAUS AM RIO

(La casa al lado del rio)
Erzählung
von Joachim Lotsch


Den anderen Tag ging Chimo zu dem Baum, der während des Gewitters der vergangenen Nacht umgestürzt war. Eine riesige Caoba, deren Stamm sich nun zwischen den anderen Bäumen auf den sandigen Boden gelegt hatte. Er reichte Chimo fast bis zur Brust, so dick war er. Chimo kraulte sich den Bart. Irgendwie nochmal Glück gehabt, dass er nicht direkt auf das Haus gefallen war.
Der Baum musste, wenn man sich die morsche Stelle betrachtete, an der noch Jahresringe zu erkennen waren, bestimmt über hundert Jahre alt gewesen sein. Ein stolzer Riese, der an Altersschwäche verstorben war.
Einer der beim Umfallen abgebrochenen Äste war noch ein paar Meter weit geflogen und auf dem Dach von Chimos Behausung gelandet. Es war ein Flachbau mit zwei Zimmern und einer kleinen Küche, der aus mit Bitterrohr verstärkten Lehmwänden bestand und mit einem Balkenwerk und Blechtafeln abgedeckt war. Eines der Bleche war von dem abgebrochenen Ast der Caoba durchschlagen worden.
Das Nordzimmer war eigentlich als Schlafzimmer gedacht, aber Chimo war es oft zu warm im Zimmer. Deshalb schlief er meist draußen, in der Hängematte, unter dem Vordach. Dennoch musste das Dach repariert werden.
Im Schuppen hinter dem Haus fand er zwischen alten Stühlen und Holzbohlen einige Blechtafeln. Chimo zerrte ein Stück von etwa zwei Metern Länge und einem Meter Breite hervor. Er zog sein T-Shirt aus und hängte es über die Lehne eines Stuhls. Es war schon wieder ziemlich heiß, an diesem Vormittag. Er holte dann die Leiter aus dem Schuppen, lehnte sie seitlich an den Flachbau. Das Blech lehnte er an die Wand. Dann kletterte er hinauf und zog das Blech nach oben. Er stand auf dem Dach, barfuß und nur mit einer Jeans bekleidet und betrachtete den Schaden. Und den Ast der Caoba. Er war so dick wie sein Oberschenkel und ungefähr drei Meter lang. Er konnte ihn kaum hoch heben, so schwer war er. Ein Seitenast ragte in das Dach hinein. Er musste wieder hinunter und eine Säge holen. Zum Glück fand er eine im Schuppen. Er stieg wieder auf das Dach und sägte den in das darunter liegende Zimmer ragenden Ast ab. Der fiel krachend zu Boden. Dann wuchtete er den großen Ast an die hintere Kante des Daches und stieß ihn mit einem Fußtritt nach unten. Das Loch bedeckte er jetzt mit dem mitgebrachten Stück Blech.
Dann kletterte er wieder hinab und suchte etwas, um das Blech zu beschweren, damit es nicht von der nächsten Windbö davongetragen würde. Im Bett des Baches, ungefähr dreißig Schritte entfernt, fand er einen dicken Stein, den der Rio beim letzten Hochwasser wohl mitgebracht hatte. Bei den gelegentlichen Starkregenfällen konnte der Bach zum reißenden Fluss werden.
Im rechten Arm den Stein, fast so dick wie ein Medizinball, aber flacher, die linke Hand am Holm der Leiter, hievte er den Stein, Sprosse um Sprosse die Leiter bezwingend, auf das Dach und ließ ihn dann auf das Blechdach krachen. Er schob ihn, auf allen Vieren, bis zu der ausgebesserten Stelle, um diese zu sichern.
Dann setzte er sich und schnaufte tief durch. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, ließ er den Blick schweifen, links den Rio hinauf, rechts zum Strand, es war Ebbe, das karibische Meer plätscherte nur leise. Bartolo, sein Freund und Pfadfinder, kam heran geschlendert. Der hatte ihn auf dem Dach schon erspäht und deutete mit der Hand, in der er sein weißes T-Shirt trug, ein Winken an. Schweiß ließ seinen schwarzen Bauch glänzen und sickerte in den Bund seiner dunkelblauen Shorts.
"Was machst du denn auf dem Dach?"
"Hatte ein Loch im Dach."
"Von der Caoba?"
"Ja."
Bartolo schlurfte zur Küche, während Chimo wieder vom Dach herunterkletterte und die Leiter verstaute.
Bartolo hatte sofort den Rum entdeckt. Grinsend hielt er die Flasche hoch. Chimo zeigte mit einer einladenden Handbewegung auf den Tisch, der vor der Küchentür auf der Terrasse stand. Bartolo holte zwei Parchitas aus der Hosentasche.
"Hast du Gläser?"
"Ja," sagte Chimo und holte zwei kleine Bechergläser aus der Küche. Er brachte auch ein Messer und einen kleinen Löffel mit. Er wusste schon, was Bartolo vor hatte. Dann setzte er sich gleichfalls auf einen der wackligen Stühle am Tisch und legte Messer und Löffel vor Bartolo hin. Der sah Chimo kurz in die Augen und zwinkerte ihm zu.
"Ganz schön warm, schon wieder," sagte Bartolo.
"Ja, allerdings," erwiderte Chimo.
Bartolo schnitt die Früchte auf und halbierte sie. Mit dem Löffel schälte er das Fruchtmark heraus und ließ es in die Gläser gleiten.
"Azucar?" sagte er fragend. "Zucker?"
"Oh ja," sagte Chimo, stand auf und holte Zucker.
Bartolo streute Zucker auf das Fruchtmark der Maracuyafrüchte und zerdrückte die Masse bedächtig. Dann gab er dreifingerbreit Rum dazu und verrührte das Ganze. Dann schob er ein Glas zu Chimo hin, und das andere setzte er an die Lippen. Chimo trank ebenfalls. Köstlich, der süßsauerschlüpfrige Trunk im Schatten der überdachten Veranda. Draußen brüllte die Mittagssonne.
Chimo lehnte sich zurück. Sein Blick glitt nach oben. Dann erstarrte er. Bartolo bemerkte seinen Blick und sah gleichfalls nach oben. Auf einem der Balken unter dem Vordach saß eine Vogelspinne.
"Der Biss von der Spinne ist giftig," sagte Chimo.
"Ja," sagte Bartolo.
"In Europa gibt es die nur im Zoo."
Bartolo lachte guttural. "Die will dich fressen."
"Das wohl kaum, aber gefährlich ist sie doch. Die kann zehn Meter weit springen, sagt man."
Bartolo lachte wieder. "Wenn du ihr nichts tust, tut sie dir auch nichts."
Ganz langsam, geradezu gravitätisch, spazierte die große Spinne, größer als Chimos Hand, vielleicht so groß wie Bartolos Hand, auf dem Balken entlang, um sich um die Ecke, auf dem nächsten Balken niederzulassen. Sie schien die beiden zu beobachten. Chimo machte sich Sorgen. Aber Bartolo erklärte, dass die Araña nur kleinen Tieren auflauert, die meist nicht größer als sie selbst seien. Vermutlich habe sie in der riesigen Caoba, dem alten Mahagonibaum, gewohnt und müsse sich jetzt, nachdem der Baum umgestürzt war, ein neues Quartier suchen.
"Aber nicht bei mir," sagte Chimo.
Bartolo lachte wieder. "Sie wird schon wieder gehen. Wird sich einen anderen Baum suchen. Wirst schon sehen. ? Wollen wir etwas essen?"
Er habe noch Brot von gestern und Wurst und Käse aus Caracas, sagte Chimo, er sei ja gestern oben in der Stadt gewesen. Bartolo verzog das Gesicht. "Komm mit zu meiner Casita, ich habe noch einen Fisch von heute morgen."
Bartolo war einer der Fischer, die morgens vor Sonnenaufgang hinausfuhren. Meist acht oder zehn Männer in einer Aluschale mit einem kräftigen Außenbordmotor. Dann holten sie die Stellnetze ein, die sie am Abend zuvor ausgebracht hatten, und pulten die Fische aus dem Netz, die sich darin verfangen hatten. Jeder, der mitmachte, bekam am Ende einen Fisch. Und jeder, der früher immer dabei gewesen war, aber aus Alters- oder Gesundheitsgründen, nicht mehr mitmachen konnte, oder dessen Familie, falls er verstorben war, bekam auch einen Fisch. Alle übrigen Fische wurden verkauft. Gegen Mittag kam immer ein Händler mit einem Kühlwagen, der den Fang aufkaufte. Er wog die Säcke ab und zahlte mit Bargeld, das allerdings gleich von den Frauen kassiert wurde. Die resolute Rosa hatte die Dorfkasse. Sie war der Ansicht, dass man den Männern kein Geld überlassen könne. Die würden nur alles für Bier und Schnaps oder fremde Weiber ausgeben. Sie aber würden das Geld aufsparen. Und tatsächlich war es so, dass sie Gas kauften, wenn es bei jemandem ausging, wenn im Dorf jemand einen neuen Kühlschrank brauchte, oder wenn jemand zur Heilerin oder gar in die Klinik musste.

Einmal standen morgens um sieben Uhr einige Frauen bei Chimo vor dem Bungalow. Er war ganz verdattert, war gerade erst aus der Hängematte geklettert, fragte was los sei. Sie sagten, sie hätten eine Enferma, eine Kranke, die in die Klinik müsse, und fragten ob er heute in die Stadt fahre. Und sie vielleicht mitnehmen könne? Ja, ja, sagte er, in einer Stunde würde er fahren.
Und pünktlich waren die Frauen da. Sie setzten die Kranke in sein Auto. Auf den Rücksitz vom Jeep. Rechts und links je eine, die sie stützten. Auf dem Beifahrersitz ein großer, schwerer Mann. Das Verdeck war offen. Chimo fuhr los. Am Ortsausgang die Serpentinen hinauf und auf die Carretera Richtung Catia la Mar. Nach drei oder vier Kilometern riefen die Frauen, er solle halten.
"Ist ihr schlecht," fragte er?
"No, no," sagten sie. Nein, nein, nur warten. Und kurz darauf kamen Leute von der Bergseite des Weges gerannt. Links konnte man durch die Löcher in der Straße das Meer sehen. Eine Frau quetschte sich zu den anderen auf den Rücksitz. Ein Mann schwang sich auf die hintere Stoßstange und hielt sich an der Karosserie fest. Chimo solle weiterfahren. Es sei eilig. Also fuhr er weiter. Nach einiger Zeit riefen sie wieder, er solle anhalten. Und wieder kamen Leute von Gott weiß woher gelaufen und quetschten sich in den Wagen. Die Kranke stöhnte. Die arme Frau, dachte Chimo.
Inzwischen hatte er ihren dicken Bauch gesehen. Die Frau war gar nicht krank, sondern hochschwanger. Und es schien wirklich eilig zu sein. Und irgendwie wussten die Leute an der Strecke Bescheid, obwohl sie keine Telefone hatten. Nach etwa einer Stunde Fahrt kamen sie in der Klinik in Catia la Mar an. Es war gerade nochmal gut gegangen. Was sie ihm geben könnten, fragten sie Chimo. Aber Chimo wehrte ab. Er wäre ja sowieso gefahren. Und außerdem sei das einfach Nachbarschaftshilfe und ihm eine Freude. Aber für das Benzin?! Nein, nein, das sei kein Problem.
Chimo fuhr dann nach Caracas hinauf. In den Bergen regnete es ein bisschen. Er fuhr zum American Express Office in Tamanaco, wo er seine Post in Empfang nehmen und seine Berichte per Telefax verschicken konnte.
Dann zum Colegio Humboldt, wo er zweimal pro Woche Spanischunterricht nahm.
Anschließend fuhr er zur Plaza de las Americas. In einem Café traf einen Freund aus Deutschland, der ihm erklärte wie gefährlich dieses Land sei, er sei in der U-Bahn, in Gegenwart von zig Menschen ausgeraubt worden, das müsse man sich mal vorstellen. Und keiner tue etwas dagegen. Da würden einem diese Kerle eine Pistole unter die Nase halten und sagen, er solle ihnen alles Geld geben, das er bei sich habe. Er war total empört. Er habe ihnen dann alles gegeben, und dann seien die beiden Kerle seelenruhig an der nächsten Station ausgestiegen und weg gegangen.
Er sah sehr weiß aus, nicht nur vor Schreck, und in seinem weißen Hemd und dem hellgrauen Anzug wirkte er noch weißer.
Chimo sagte: "Schau mich an. Ich gehe immer nur mit Jeans, T-Shirt und Turnschuhen." Ihm sein noch nie etwas passiert.
Allerdings wohne er unten, an der Küste. Da war er auch öfter der Sonne ausgesetzt und von daher leicht coloriert ? und nicht mehr gar so weiß.
Gegen Abend fuhr Chimo wieder an die Küste runter, in Catia tankte er vorsichtshalber, dass er nirgendwo mehr stehen bleiben musste, kaufte sich am Kiosk eine Arepa, ein mit Meeresfrüchten gefülltes Maisbrötchen, das er während der Fahrt verspeiste. Anhalten nach Einbruch der Dunkelheit war nicht unbedingt anzuraten, weil man nie wissen konnte, welche Elemente man da auf sich aufmerksam machte. Aber Chimo war sehr umsichtig und bislang immer gut durchgekommen. In Chichiriviche waren schon einige Lampen an, als er die Serpentinen zum Dorf hinab fuhr. Er parkte an seiner Hütte und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann saß er auf der Veranda und entspannte sich.
Er nahm einen Schluck Bier und sinnierte, was seine untreue Liebe in Deutschland wohl gerade machen würde. Im Grunde war er ja auf der Flucht. Auf der Flucht vor Ungemach. Weil seine Liebste ihn um Abstand gebeten hatte, vorübergehend, hatte er überhaupt nur den Job, aus Venezuela zu berichten, angenommen. Sie müsse jetzt ihre Affäre ausleben, sonst stürbe sie, hatte sie gesagt. Wenn er sie ließe, würde alles wieder gut werden.
Jedenfalls saß er jetzt auf seiner Terrasse, mit einem Bier, und auf einmal kam ein junger Mann mit langsamen, leicht schwingenden Schritten heran. Er trug Jeans und Turnschuhe und ein hellblaues Hemd, das über die Hose hing. Er hatte eine Trommel an einem Seil umgehängt. So einen ausgehöhlten Baumstamm, dessen eine Öffnung mit Fell bespannt ist. Und er klöppelte mit den Fingern einen feinen Rhythmus. Er ging auf dem Platz vor dem Bungalow, zwischen den Caobas, quasi spazieren. Er ging auf und ab und trommelte leise dabei. Ein schöner Klang. Es dauerte nicht lange, da kam noch einer. Sie schienen sich rhythmisch Bälle zuzuspielen. Dann kam noch einer. Und noch einer. Bald waren es acht Männer. Der mit dem blauen Hemd fing zu singen an, während ihn die anderen trommelnd begleiteten. In seinem Singsang, oder Sprechgesang, dankte er Chimo, dass er die Enferma, die Kranke, die Schwangere, in die Klinik gefahren habe. Dass sie ein gesundes Kind zur Welt gebracht habe. Und das Beste sei, dass dieses Kind, ein Knabe, sein Sohn, genau die selbe Farbe, genau diesen Braunton, dieses Marón habe, genau das Marón, das auch seine Hautfarbe sei.
Dann kamen noch ein paar Frauen aus dem Dorf und sangen. Die Männer trommelten. Chimo hatte zum Glück unterwegs eine Kiste Bier gekauft und konnte ihnen zu trinken anbieten. Bartolo kam auch und setzte sich stolz neben Chimo auf einen dieser wackligen Stühle. Schließlich war es ja sein Freund Chimo, der der Frau geholfen hatte. So war das an jenem Abend.

Jetzt aber ging Chimo mit Bartolo zum Strand, zu dessen Casita, wie er sagte, zu seinem Häuschen. Die Bucht war vielleicht fünfhundert Meter breit. Wenn man hinunter sah, nach Norden, zum Strand, dann war links der Rio Chichiriviche, der ins Meer mündete. Jetzt ein kleines Rinnsal. Aber wenn es oben in den Bergen heftiger regnete, konnte aus dem Rinnsal ein reißender Fluss werden. Darum war nur die rechte Hälfte der Bucht, die ein bis zwei Meter höher lag, bebaut. Hier wohnten viele Fischer. Eines der Holzhäuser war Bartolos. Am Strand lagen Boote.
"Pasa, pasa," sagte Bartolo, "entra". Komm rein.
Es waren zwei Zimmer, das vordere mit einer kleinen Kochnische.
"Setz dich," sagte er und zeigte auf etwas, das ein Stuhl sein könnte. Er hatte genauso wacklige Stühle wie Chimo.
Dann machte er seinen Gaskocher an, stellte eine große Pfanne, die voller Öl war, darauf. Aus dem Schrank unter dem Kocher holte er einen Fisch heraus, ein Prachtexemplar von einem jungen Thunfisch, ohne Kopf, gut eine Elle lang, der bereits ausgenommen war. Auf dem Tisch mit der Mahagoniplatte teilte er den Fisch mit der Machete in sechs handbreite Stücke. Er schälte zwei Zwiebeln, teilte sie gleichfalls mit der Machete und warf sie in die Pfanne. Dann setzte er die Thunfischstücke, mit den Schnittflächen in das brutzelnde Öl, streute Pfeffer und Salz darüber, dann schälte er zwei Kochbananen, halbierte sie der Länge nach, ebenfalls mit der Machete, und legte sie neben die Fischstücke in das siedende Öl. Nach ein paar Minuten wendete er Bananen und Fische mit der Machete, um sie von der anderen Seite zu bräunen. Nach kaum zwanzig Minuten war das Essen fertig. Bartolo stellte die Pfanne auf den Tisch, spießte mit einer Gabel ein Stück Fisch auf und reichte es Chimo. Die Art der Zubereitung fand Chimo zwar etwas rustikal, aber es schmeckte köstlich. Ein frischer, junger Thun, außen braun und knusprig, innen rosa, mit dem Geschmack von Meer und Glück, dazu gebratene Bananen und Zwiebeln. Was könnte besser sein?

Es sei Zeit zu gehen. Er müsse noch packen. Morgen früh müsse er nach Maiquetía, zum Flughafen, sagte Chimo. Bartolo stand auf. Ging zu dem grob gezimmerten Regal an der hinteren Wand des Raumes. Nahm etwas heraus. Kam wieder zu Chimo. Dieser große, starke Mann, der Chimo über viele Dschungelpfade zu einsam gelegenen Dörfern geführt und in schwierigen Situationen beschützt hatte, bekam einen weichen Blick. Er gab Chimo eine Tonbandkassette.
"Buen viaje," sagte er nur. Gute Reise.
Die Kassette war unbeschriftet. Chimo umarmte Bartolo. "Muchas gracias," sagte er.
Erst als er zurück in Deutschland war, konnte er die Kassette in einen Rekorder stecken. Es war Beethovens neunte Sinfonie, die Ode an die Freude.


© 2022 Joachim F. W. Lotsch (16098 Zeichen)

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Montag, 2. Mai 2022
HAUS OHNE TÜR
HAUS OHNE TÜR

Gedicht
von Joachim Lotsch


Wenn ich in einem
Haus wohne, das
Keine Tür hat,
Gehe ich aus
Dem Fenster.

Si yo estoy en
Una casa
Sin puerta
Me salgo
Por la ventana.


© 1993 Joachim F. W. Lotsch

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STILLE TAGE IM LEHEL
STILLE TAGE IM LEHEL

Gedicht
von Joachim Lotsch

Bring mir ne Strumpfhose und ne Rothändle
ne Rothändle ne Rothändle
Strumpfhose und Rothändle
rief sie vom Bett
vom Bett
aus dem Bett
oh liebe mich oh liebe mich
und wenn du gehst wenn du gehst
bring mir was mit
Strumpfhose und Rothändle
oh yeah
und gib mir mal den Aschenbecher
und gib mir mal den Kaffee
nein gib doch das Bier
nein gib mir Wein ja Wein
das ist fein
liebe mich und gib mir Wein
oh yeah
liebe mich und bring mir Essen
ja Essen aus der Bar
Essen aus der Bar
das schmeckt gleich nach Musik
ein Steak in der Semmel
oh yeah
Steak in der Semmel vom Tabarin
vom Tabarin
gleich um die Ecke
oh yeah
das schmeckt nach Jazz
und n Bier und ne Rothändle
oh du bist so gut zu mir
komm liebe mich
liebe mich nochmal
nochmal nochmal
und noch einmal
oh Gott wie gut
dass du das kannst
nochmal nochmal
und wenn du gehst
bring mir ne Strumpfhose mit
und ne Schachtel Rothändle...


© 1967 Joachim F. W. Lotsch

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IN DER AU
IN DER AU

Gedicht
von Joachim Lotsch


Von Schwabing in der Nacht
Die Sonja heimgebracht

Quer durch die Stadt zum Isarstrand
Gefühle gingen Hand in Hand

Dann - ein Kuss in der Au
Oh, Birnbaum schön blau.


© 1999 Joachim F. W. Lotsch

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Donnerstag, 28. April 2022
GELD UND LIEBE
GELD UND LIEBE

Einst sprach Frau E.

Ein kurzer Roman
von Joachim Lotsch


Einst sprach Frau E.: "Du kannst mich vögeln, wann immer du willst."
Sie blinzelte ihn an. In den Augenwinkeln kräuselten sich die Lachfältchen. Sie warf den Kopf zurück, dass ihr dunkles Haar über die Schultern wippte.
"Auch wenn du spät nach Hause kommst."
Sie wandte sich ab, und unter ihrem dunkelgrauen Wickelrock zeichneten sich ihre Hüften ab. Sie wackelte kurz mit dem Po, drehte sich erneut ihm zu.
"Auch wenn ich schon schlafe."
Sie schaute zu ihm auf.
Ihr Busen schien zu beben.
Er zog die linke Augenbraue hoch und strahlte sie an. Das fand er sehr angenehm und unproblematisch. Frau E. war allzeit gut zu vögeln. Einmal abends, einmal morgens. Sie schlief immer nackt, und sie umschlang ihn mit den Beinen, wenn er zu ihr kam. Sie war auch immer bereit und öffnete sich, ihre feuchte Vagina schien sich nach ihm zu sehnen. Und sie machte immer so ein Geräusch, eine Art Jauchzen, das in ein Gurren mündete, wenn er in sie eindrang. Ein Geräusch, das er als lust- und liebevoll interpretierte. Der Herr war niemals sexuell frustriert, zu jener Zeit.
Wenn es Zeit war aufzustehen, küsste sie ihn zärtlich, streichelte seinen Penis ein wenig und sagte: "Ich geh' Frühstück holen."
Sie nahm die Brieftasche aus seinem Sakko, das über der Stuhllehne hing, und nahm einen Hunderter heraus.
"Bis gleich," flötete sie.
Sie hatte drei Kinder von verschiedenen Männern, und alle hatten Hunger.
Nach drei Jahren sprach Frau E.: "Du musst mich jetzt heiraten, sonst gibt?s keinen Sex mehr."
Das kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Er sog die Luft ein.
Als der Angesprochene, vollkommen perplex, äußerte, dass er sich nicht erpressen lassen könne, und dass er der Ansicht sei, dass er, wenn er erpresst werde, vermutlich gar nicht geliebt werde und damit die Grundlage für eine Heirat entfiele, entgegnete Frau E., sie brauche Sicherheit.
Der Herr hinwiederum zog es vor, auf Sex ohne Liebe zu verzichten und bat, bei dieser Gelegenheit, das geliehene Geld, nicht die ständigen Zuwendungen, nur das ausdrücklich Geliehene, das inzwischen, peu á peu, auf zwanzigtausend angewachsen war, zurückzugeben.
Hierauf sprach Frau E.: "Wieso? ? dafür hast du doch gevögelt."
So gingen beide ihrer Wege, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

© Joachim F. W. Lotsch 1998 (2353 Zeichen)

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