Donnerstag, 14. April 2022
DANN LIEBE MICH
DANN LIEBE MICH

Wie ich mal zu einem Gedicht kam
von Joachim Lotsch


Die Lumpi wohnte in der Neureutherstraße. Die Straße ist nach einem Architekten der Neorenaissance benannt. Er lebte im 19. Jahrhundert. Ich schlenderte über das Kopfsteinpflaster und rief bei ihr an. Die Sonne stand schon schräg.
"Was willst du?" fragte sie etwas zu laut.
Es waren zwar schon ein paar Jahre ins Land gegangen, seit sie zuletzt als Regieassistentin tätig gewesen war. Aber den Ton hatte sie noch drauf. Immer ganz wichtig und etwas zu bestimmt.
"Wollte hören, wie es dir geht," sagte ich.
"Willst du ficken?" fragte sie.
"Ähm... nun... ja," stotterte ich. So direkt wollte ich das eigentlich nicht zugeben. Aber die Intention hatte sie richtig erraten.
"Na, dann komm her!" befahl sie.
Sie empfing mich mit einer offenen Flasche Bier in der Hand. Sie trug einen kurzen Jeansrock und einen dunkelblauen Kaschmirpulli. Am Ärmel zog sie mich in die Wohnung und schubste die Tür mit dem Absatz zu. Dann zog sie mich ins Zimmer und um die Ecke zu ihrer Schlafnische, die mit dicken, weinroten Samtvorhängen ausstaffiert war. Sie stieß mich rücklings aufs Bett und schimpfte, "wo warst du so lang?" "Hatte zu tun." Sie knöpfte mir die Hose auf und kam direkt zur Sache. Sie hatte nichts an, unter Ihrem Rock, und setzte sich einfach auf mich.
"Jetzt wirste mal zujeritten," rief sie in ihrem Berliner Dialekt, "damit du besser parierst."
Sie lachte laut dabei und machte einen guten Weg. Es war zwar etwas überraschend, diese schnelle Begegnung. Aber ich genoss es.

Später saßen wir in ihrem Wohnzimmer, jeder in einem gemütlichen Ohrensessel, zwischen uns ein kleines, rundes Tischchen, mit einem Glas Wein für mich und ihr Bier und ein Aschenbecher. Sie rauchte eine Gauloise. Ihre Stimme war jetzt leiser, fast zärtlich, und tiefer. Ihre rötlichen Haare hingen in die Stirn. Sie nahm eine Kladde von der Fensterbank, klappte sie auf, sah mich mit ihren grünen Augen an und reichte mir ein eng beschriebenes Blatt.
"Hab' ich für dich geschrieben," sagte sie.

Ich las: DANN LIEBE MICH.
Und weiter:
"So, wie sich die Wolken in den Strahlen der Sonne lösen,
Die Gipfel der Berge in den Sternenseen baden,
Der Frühling sich mit den Winden liebt,
Werde ich im neuen Sommer meinen Körper wärmen
Und mit den Morgengewittern erglühen.
Rote Nelken werden mich begleiten
Und neue Gedanken gebären.

Dann werden die Schwachen des Dschungels den Tiger reißen,
Die Wurzeln sich aus dem Dunkel der Erde befreien,
Die Sandkörner zu Felsen werden,
Die Worte im Saft des Mundes reifen.
Dann liebe mich wie das Meer,
Wenn es sich schäumend in die Erdschenkel ergießt
Und die Luft zur Lust des Windes werden lässt.

Suche mich in den ruhelosen Schaumkronen des Sturmes,
Die von mächtigen Wellenbergen zum Ufer getragen,
Schäumend die unzähligen Sandkörner umspülen.
Schleudere mich mit den schwindelnden Strudeln
Hinunter zum Grund der Lust,
Wälze mich im Rausch der Muscheln,
Bis der Sturm sich der Ozeane entledigt."

Ich schwieg erstmal. Es hatte mir momentan die Sprache verschlagen. So ein tolles Gedicht.
Ich las es noch einmal leise. Was sollte ich sagen?
"Du bist ja eine großartige Dichterin," sagte ich. "Das ist ja fantastisch!"
Ihr Blick war ganz weich. Sie ließ die Ruhe wirken. Sie hatte jetzt ihren zackigen Ton vom Set abgelegt. Sie musste nicht sofort irgend etwas organisieren oder regeln oder einen Komparsen, der sich verlaufen hatte, herbeischaffen. Sie küsste mich zärtlich und sagte: "Jetzt kannste wieder jehn, Liebsta, - und komm ma wieder vorbei."
Draußen, auf dem Kopfsteinpflaster klang der letzte Satz noch nach.
Sie hatte Liebster gesagt. Nicht meinen Namen. Hatte sie mich überhaupt gemeint?
Ich erinnere mich an eine frühere Begegnung. Ich war bei ihr, und sie telefonierte mit ihrer Mutter.
"Ick hab' nen neuen Mann," hatte sie zu ihr gesagt. Und die Mutter hatte wohl nach dem Namen gefragt, und sie hatte gerade ihren forschen Filmsetton drauf und brüllte: "Wie heißt du nochmal?" Und dann hatte ich meinen Namen gesagt.
Sie sagte: "Ach, ick sach einfach Liebsta zu dir!"
"Mein Liebsta hat mir Blumen mitjebracht," brüllte sie dann ins Telefon und nahm einen Schluck aus ihrer Bierflasche.
Das war auch das Seltsame. Sie trank ständig. War aber nie betrunken. Und sie benahm sich immer, als müsse sie gleich etwas organisieren, griff unvermittelt zum Telefon, wählte eine Nummer und brüllte: "Verbinden Sie mich mit Atze Brauner!" Auf der anderen Seite schien Verwirrung zu herrschen. Atze Brauner war schon seit einiger Zeit verstorben. Dann sagte sie: "Diese Leute haben keine Ahnung. Das ist so schrecklich, dass die heute kein vernünftiges Personal mehr haben."
Denn, wenn jemand Ahnung hatte, dann doch wohl sie. Sie war direkt nach dem Abitur zum Film gegangen, und jetzt, gut zwanzig Jahre später, hatte sie schon länger kein Engagement. Sie spielte die ewige Optimistin - und hatte wahrscheinlich Korsakow.
Als ich ein paar Wochen später mal wieder bei ihr vorbeischauen wollte, war die Wohnung leer geräumt. Im Haus wusste niemand, wo sie abgeblieben war. Leider hatte sie wohl nur ein Gedicht geschrieben.


© Joachim F. W. Lotsch (5083 Zeichen)

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