Dienstag, 5. April 2022
DER TOM UND DIE STEINSUPPE
DER TOM UND DIE STEINSUPPE

Erzählung
von Joachim Lotsch


Der Tom saß mit einigen Leuten auf einer Bank an der Sonnenseite vom Wintergarten beim Markt in Schwabing und sie redeten über die bevorstehenden Wahlen in Hessen, über Macht und Ohnmacht, Recht und Gerechtigkeit. Das Recht bestehe doch einfach aus Spielregeln, die von Menschen gemacht werden, murmelte der Tom, und Gerechtigkeit sei nur eine Fiktion. Man könne bestenfalls versuchen, eine Mehrheit für einen Konsens zu gewinnen, um gemeinsam etwas Brauchbares zu generieren.
Auf einmal wurde ihm das unqualifizierte Gerede der Leute zu dumm, und er erhob sich, schnippte seine Kippe mit Krümeln der letzten Ernte weg und sagte: "Mir ist jetzt nach Steinsuppe."
Den Anderen blieb der Mund offen stehen. Steinsuppe? ... Tom schob die Unterlippe vor, senkte den Kopf, dass seine von Silberfäden durchzogenen schwarzen Locken in die Stirn fielen und sagte mit dem Ernst des ehemaligen Juristen: "Na klar. Steinsuppe. Köstliche Sache."
Vom Taxistand an der Ecke war gerade der Nick herübergekommen und griente: "Was hab ich da eben gehört? Steinsuppe? Machst du Witze?"
Zeus lachte laut auf. "In Oberhausen hamse natürlich keene Steinsuppe..." Nick machte eine Kopfbewegung, die zur Folge hatte, dass seine zwar schon etwas dünner werdenden, aber doch zumindest zur Brust reichenden Haare rückwärts über die Schulter schlenkerten. Er müsse gerade reden. Als Zugereister und Restphysiker 'ne große Lippe zu riskieren. Ob er denn wisse, was es mit der Steinsuppe auf sich habe.
Zuagroaster heißt das hier, warf Wolfi ein. Sein Akzent roch deutlich nach Nordsee. Die Einheimischen beschränkten sich weitestgehend auf das Marktpersonal.
"Nee." Zeus ließ sich, wie immer, in seinem Redefluss nicht beirren. "Aber wenn der Tom Steinsuppe sagt, dann gibt's eben Steinsuppe. Letztes Jahr war´s Alpenglühen. Jetzt gibt's vielleicht Steinsuppe, wat wees denn ick."
Um Toms rechten Mundwinkel bildete sich jene kleine Falte, die in einem Grübchen mündete und schon viele Frauen schwach werden ließ. Gewisse Damen schwärmten noch ein halbes Jahrhundert später davon. Und dann war er natürlich schon immer die Contenance in Person.
Nein, mit dem Alpenglühen habe das jetzt nichts zu tun. Man brauche einen großen Topf mit Wasser, den müsse man aufs Feuer setzen. Bedächtig griff er in seine rechte Jackentasche und brachte einen flachen, etwa handtellergroßen, weißen Kieselstein zum Vorschein. Und diesen Stein werde er in die Suppe legen, seinen Suppenstein, das gebe eine vorzügliche Suppe.
Ungläubiges Gemurmel... Vom Nachbartisch ein verlegener Lacher, der auf Unkenntnis schließen ließ.
Man könne ja rüber gehen zur Rheinpfalz, vielleicht würde die Barbara einen Topf zur Verfügung stellen, dann werde er es gerne vorführen.
Tom erhob sich, blinzelte in die untergehende Sonne, überquerte die Fahrbahn, bog beim Theater um die Ecke, erreichte nach hundert Metern die Kneipe. Die Tür stand offen. Es roch nach Asche, kaltem Bierdunst und Reinigungsmitteln. Klaus begrüßte ihn mit seinem Mick-Jagger-Grinsen. "So früh schon, Tom." Und dann verteilte er Aschenbecher und kleine Kerzenständer auf den zehn Tischen des Lokals. Seine rechte Hand zitterte, als er Kerzen in die gläsernen Halter presste.
Hans war noch grau unter dem schütteren Blondhaar. Nach Mitternacht würde er ganz anders aussehen, lebhaft sein, rotbackig bis zum Morgen mit seinen Gästen diskutieren, vielleicht ein Stückchen auf der Trompete spielen, den einen oder anderen Witz zum besten geben, mit erhobenem Zeigefinger seine Richtigkeit unterstreichen. Jetzt stand er hinter der Theke mit den vier Zapfhähnen. Er stützte beide Fäuste auf die verchromte Schankfläche. Über dem frischen Hemd trug er seinen karierten Pullunder, der den Bauch betonte. Er starrte geradeaus in das noch leere Lokal und sagte nur: "Servus, Tom."
Tom strebte direkt zur Küche, wo leichtes Klappern zu vernehmen war. Barbara war soeben erst vom Einkaufen gekommen. Der offene, schwarze Mantel betonte ihre grandiose Oberweite und verschlankte ihre Hüften, die im Verlauf ihrer dreißigjährigen Karriere von der Politikwissenschaftlerin zur Kneipenköchin pompöse Ausmaße angenommen hatten.
Tom schätzte ihren leicht unterkühlten Esprit, der sich mit enormem Wissen paarte. Es kam oft vor, dass die alten Männer, die einstigen Rebellen und Geistesgrößen von 68, am Tresen stehend uneins waren. Etwa über die lebenswichtige Frage, wie die Schwester von Carl Friedrich Gauß hieß. Hieß sie Dorothee? Oder Leonore? Einige waren für Dorothee. Andere für Leonore. Einer meinte Anna. Bald schlug einer vor: "Da müssen wir die Barbara fragen."
Dann wurde die Barbara aus der Küche herauskomplimentiert und an die Theke gebeten, und es wurde ihr die Frage vorgelegt. Es dauerte keine Sekunde bis Barbara mit sonorer Stimme und beinahe ungeduldig antwortete: "Gauß war Einzelkind. Der hatte keine Schwester. Seine Mutter hieß Dorothea." Leicht den Kopf schüttelnd über die lapidare Frage und die Unwissenheit der Jungs am Tresen, drehte sie sich um und marschierte wieder schnurstracks in ihre Küche. "Siehste, Dorothea," sagte dann einer. Und ein anderer: "Ja, aber die Mutter, der hatte keine Schwester."
Tom stand mit einem Bein in der Küche. "Was gibt's denn heute zu essen?"
"Ich muss erst noch die Karte machen."
"Aber du hast doch bestimmt schon was fertig."
"Also, Tom, bei mir gibt's immer alles frisch. Das solltest du doch wissen."
"Na ja, ich meine, falls du am Herd eine Flamme frei hast... ich würde nämlich gerne was machen."
"Wie, was machen?"
"Na ja, was kochen."
"Was kochen? Seit wann kannst du kochen? Und überhaupt! Wie stellst du dir das vor? Wenn gleich die Gäste und dann zwanzig Bestellungen auf einmal kommen, brauche ich alle Flammen."
"Oder einen Topf?"
"Was für einen Topf?"
"Irgend einen großen Topf."
"Und was willst du mit dem?"
"Steinsuppe machen."
"Steinsuppe ma... ?"
Tom legte den Kopf schräg, machte sein verführerischstes Grübchen und nickte.
"Steinsuppe? Machst du Witze?"
"Nein, das ist klasse."
"Kommt überhaupt nicht in Frage. Die Küche ist viel zu klein."
Inzwischen hatte sich beim Markt herumgesprochen, dass der Tom heute in der Rheinpfalz kochen würde. Manche meinten, das sei doch nur ein Scherz. Die Barbara würde doch niemals jemand in ihre Küche lassen. Der Hugo von der Theaterbar, der alte Zocker, der selbst ganz gut kochen konnte, meinte: "Der Tom? Wenn der Tom kocht, dann komm' ich auch."
Die Kalisha von der BarCulina, auf der anderen Ecke, die üppige, schwarze Schönheit mit den hüftlangen Dreads, die die Gäste von der Rheinpfalz verköstigte, wenn dort der Hans zu vorgerückter Stunde verkündete: "naus jetza", weil er das Lokal schließen und mit einer Dame in der im ersten Stock über der Wirtschaft befindlichen Wohnung zu Bett gehen wollte, fragte, was der Tom denn Besonderes kochen wolle. Und was das denn sei, die Steinsuppe.
Man wisse es auch nicht so genau, wurde sie beschieden, aber der Tom habe einen Stein, mit dem man angeblich Suppe machen kann. Anscheinend habe der Tom den Stein von einem irischen Mönch geschenkt bekommen, den er in Goa getroffen habe, als er vom Geheimdienst den Auftrag hatte, in Indien nach einem verschollenen Mädchen zu suchen. Als er nach monatelanger Suche alle seine Mittel aufgebraucht hatte und kaum noch hoffen konnte, seine Mission zu erfüllen, habe er das Mädchen völlig ausgezehrt am Strand in der Nähe von Anjuna gefunden. Dort, an der Sklavenküste der vormals portugiesischen Kolonie in Indien, habe der irische Mönch ihnen beiden das Leben gerettet, indem er ihnen das Geheimnis der Steinsuppe verraten habe. Und dann, als sie wieder bei Kräften waren, habe er Tom den Stein geschenkt, den er seither immer bei sich trage.
"Ich komme auch," sagte Kalisha leise.
Der Mann, der seinen Metzgereistand gerade abgeschlossen und mitgehört hatte, meinte, dass das doch wohl ein "Schmarrn" sei. "Aber des schaug i mir o."
In der Rheinpfalz waren inzwischen die ersten Gäste eingetroffen. Hans, der Wirt, zapfte Bier. Klaus, der Kellner, servierte es auf der Theke, auch wenn es nur eine Armlänge vom Zapfhahn entfernt war. Sieben Herren und eine Dame bedankten sich jeweils artig, denn sie hatten größtenteils eine gute Kinderstube genossen. Und wenn es jemanden gab, dem dies nicht vergönnt gewesen war, so tat er oder sie es zumindest den anderen nach. "Ein Bier, Herr Doktor." "Vielen Dank, lieber Klaus." "Herr Professor, eine Gerstenkaltschale.?" "Besten Dank, Herr Hofberichterstatter." Denn der Klaus hatte früher einmal Journalistik studiert, es aber vorgezogen ein freier Mann zu bleiben, wenngleich Freiheit ihren Preis hat.
Hans begrüßte den Mann, der beim Betreten des Lokals den gesamten Türrahmen füllte, mit "Gott zum Gruß, Herr Präsident," denn er war vom Steinmetz über den allseits bekannten Großbildhauer zum Leiter der Akademie der Bildenden Künste aufgestiegen. Der revanchierte sich mit "Habe die Ehre, Herr Obermusikdirektor," wenngleich der Hans kein staatlich geprüfter Kapellmeister, sondern Betriebswirtschaftler mit einigen Musiksemestern war, es aber verstand, in seinem Wirtshaus immer wieder großartige Live-Musik-Veranstaltungen zu organisieren.
Am Mitteltisch, vor dem Klavier, ließen sich die ersten Mitglieder des Vereins gegen Vereinsgründung nieder. Barbara, aus der Küche kommend, schritt zur Theke, um aus einer Kiste hinter derselben eine Flasche Rotwein zur Verfeinerung einer Soße zu holen und sich anzuschicken wieder in ihrem Reich im hinteren Teil der Lokalität zu verschwinden. Mit einer weißen Haube und weißer Schürze glich sie jetzt mehr einer Hebamme als einer Köchin. Der Gedanke an Geburtshilfe war dabei gar nicht so abwegig, verhalf sie doch manch köstlichem Mahl dazu, das Licht der Welt zu erblicken.
"Ach, ähm, Barbara, ich habe gehört, dass der Tom heute was kocht."
Barbara hielt inne und wandte sich dem Frager zu. "Ich habe dem Tom schon gesagt, dass die Küche für so eine Aktion zu klein ist. Und erst mal muss ich meine Essen verkaufen."
"Heißt das, dass der Tom nachher in die Küche darf?"
"Na ja, jetzt schaumer mal."
"Schau mer mal, dann seng mas scho." Das war typisch Franz. Einer seiner Lieblingssprüche. Immerhin hatte er im Lauf der Zeit gelernt Geduld zu haben.
Barbara verschwand wieder in der Küche. Kurz darauf war ein Ping zu hören. Das erste Essen stand in der Durchreiche der Küchentür. Klaus eilte herbei, und zum Zeichen, dass es jetzt losgeht, deutete er ein Riff auf einer imaginären Gitarre an und machte sein Mick-Jagger-Gesicht, was ihm nicht schwer fiel, denn er sah dem Boss der Stones tatsächlich etwas ähnlich. Besonders, wenn er dann auch noch die Zunge heraus streckte.
Klaus servierte das Essen mit hanseatischem Charme. "Böfflamott, voilá." Das sagte er fast triumphierend, als habe Sankt Pauli gegen Bayern gewonnen.
Und wieder Ping.
Klaus holte das nächste Essen und servierte.
Und wieder Ping.
Der Tom saß auf einem Barhocker, an der Seite der Theke, die der Eingangstür zugewandt war, mit dem Rücken zur Tür, ein Bier vor sich. Er wirkte ganz entspannt, den Rücken leicht gekrümmt unter der schwarzen Jacke, den rechten Arm angewinkelt auf den Tresen gestützt. Das spärliche Licht erzeugte Schatten in den Furchen der Erfahrung, die sein Gesicht durchzogen. Doch die Augen waren hellwach.
Was denn nun mit seiner Suppe sei. Es seien einige Leute eigens wegen seiner Steinsuppe gekommen. Und tatsächlich. Das Lokal war ungewöhnlich voll, für die Tageszeit. Normalerweise kamen einige Leute zwischen sechs und acht, um zu Abend zu essen, dann wurde es etwas ruhiger, und gegen Mitternacht füllte sich das Lokal erst richtig. Dann kamen die Durstigen, die zuvor anderweitig beschäftigt waren.
"Wart mal ab," sagte er nur.
Es war gegen halbzehn, als Barbara aus der Küche kam. Sie ging zur Theke, blieb zwischen Tom und einem anderen Gast stehen. Hans stellte das Bierglas, das er soeben füllen wollte, unter dem Zapfhahn ab und brachte ein Schmunzeln zustande.
"Ja?"
"Gib mir ein Glas Wein."
Das Schmunzeln ging in ein breites Grinsen über. Normalerweise machte Barbara bis elf Uhr abends Küche, dann räumte sie auf und machte sauber. Und zwischen halbeins und eins kam sie an den Tresen, um ein Glas Wein zu trinken, bevor sie nach Hause ging. Jetzt blickte sie vorwurfsvoll zu Tom, der zu ihrer Rechten auf dem Barhocker thronte. Der erwiderte ihren Blick lächelnd, mit Grübchen in der rechten Wange, sagte aber nichts. Hans reichte ihr den Wein. Sein Blick verriet, dass er mehr wusste, als er bereit war zu äußern.
"Bitte sehr."
"Danke," erwiderte Barbara in einem Tonfall, der einerseits von ungebrochenem Selbstbewusstsein zeugte, andererseits ihren Ärger zum Ausdruck brachte.
"Ist irgendwas?", fragte Hans scheinheilig.
"Die nerven mich dauernd mit dieser blöden Steinsuppe." Und dann zu Tom: "Was soll denn das eigentlich?"
Tom schmunzelte nur. Er war kein Freund überflüssiger Worte.
"Die Leute bestellen nichts mehr von der Karte, die wollen plötzlich alle Steinsuppe. Was soll denn das überhaupt sein? Und wie kommst du dazu, mir ins Handwerk zu pfuschen? Dich womöglich meiner Küche zu bemächtigen?"
Jetzt verstummte das Gemurmel an der Theke. Alle wandten sich Barbara zu. Sogar Nick war noch da, der sich normalerweise ein Essen aus Barbaras Küche zubereiten und einpacken ließ, um gegen acht das Lokal wieder zu verlassen und sein Mahl im Haus nebenan, wo er wohnte, zu sich zu nehmen.
"Entschuldige, Barbara, aber im Wintergarten haben sie erzählt, dass der Tom heute Steinsuppe macht, und da war ich einfach neugierig."
"Da hast du's, Tom! Wie kommst du dazu...?"
"Also, jetzt pass mal auf," sagte Tom, "ich habe nur gesagt, dass mir nach Steinsuppe sei, und als die Anderen nachhakten, habe ich gesagt, na ja, vielleicht stellt uns ja die Barbara einen Topf zu Verfügung. Mehr nicht. Und als ich kam, habe ich dich gefragt. Und du hast nein gesagt. Dass die jetzt alle gekommen sind und Steinsuppe wollen, dafür kann ich nichts."
"Und was ist Steinsuppe?"
Toms rechte Hand glitt in die rechte Tasche seiner Jacke. Vorsichtig, als sei er sehr zerbrechlich, nahm er den flachen, weißen Stein heraus und legte ihn vor Barbara auf die Theke. Dann griff er mit der linken Hand in die linke Tasche seiner Jacke, nahm einen Zellophanbeutel und ein Päckchen Papier heraus, nahm ein Büschel Tabak aus dem Beutel, streute die schwarzen Krümel auf ein Papierblättchen, rollte dieses zusammen, benetzte die Gummierung der Länge nach mit der Zunge und steckte die Zigarette zwischen die Lippen.
Er sah sich suchend um. Hans gab ihm Feuer. Er nahm ein kräftigen Zug und blies den Rauch in die Luft.
"Ja und?" Langsam wurde Barbara ungeduldig.
"Das ist mein Suppenstein."
"Für mich sieht der aus, wie ein Kieselstein aus der Isar."
"Das Aussehen ist nicht entscheidend."
"Sondern was?"
"Was man damit macht."
"Aha, und du machst damit Suppe?" Barbaras logischer Instinkt schlug Alarm. Das konnte doch nicht sein. Einen Stein auskochen, um daraus Suppe zu machen. Sie war ja allerhand gewohnt von den Gästen. Selbstüberschätzungsbedingte Skurrilitäten, trunkenheitsbedingte Verrücktheiten, frustrationsbedingte Aggressionen, präkariatsbedingte Betrügereien...
"Ja. - Klar. - Das ist zunächst Physik."
"Was heißt zunächst? Was kommt danach?"
"Metaphysik."
"Ah, soll das eine metaphysische Suppe werden"
"Nein. - Nur Suppe."
Sie nahm den Stein in die Hand, drehte ihn um, besah ihn von allen Seiten. "Du kannst mir nicht erzählen, dass du aus diesem Stein eine schmackhafte Suppe machen kannst, indem du ihn einfach auskochst."
"Von einfach habe ich ja auch nichts gesagt."
"Also steckt irgendein Trick oder Witz dahinter."
"Eigentlich nicht."
"Sondern?"
"Solidarität."
"Versteh ich nicht."
"Man braucht einfach einen Topf mit kochendem Wasser. Dann legt man den Stein hinein..."
"Das gibt heißes Wasser, aber keine Suppe."
"Der Mönch, der mir den Stein gegeben hat, hat das genau so gemacht. Der kam aus Irland. Und er hat es bis nach Indien geschafft, als ich ihn traf. Er hat Wasser gekocht, mit dem Stein. Dann nahm er einen Löffel und probierte davon und stellte fest, dass es schon ganz köstlich sei, jedoch noch etwas besser schmecke, wenn man ein bisschen Salz hinzu gäbe. Jemand ging Salz holen, er schüttete es hinein, rührte um, kostete wieder, stellte fest, dass die Suppe jetzt noch besser sei, aber es noch feiner wäre, wenn man Gemüse hinzu gäbe. Inzwischen waren immer mehr Leute aus der näheren Umgebung gekommen, um zu sehen, was der weiße Mann mit der seltsamen Kutte am Strand kocht. Und sie schickten die Töchter in die Hütten, um Gemüse zu holen. Das wurde dann ebenfalls in die Suppe gegeben. Der Mönch rührte wieder um, kostete, zeigte sich begeistert von der Steinsuppe, fügte aber leise an, dass ein Stück Fleisch zur absoluten Geschmacksvollendung führen würde. Die Tochter des Mannes, dem der rechte Arm fehlte, wurde geschickt, und diese brachte ein halbes Huhn, das vom Vortag wohl übrig geblieben war. Das Huhn kam jedenfalls auch in die Suppe, und der Mönch rührte wieder um und ließ die Suppe so lange kochen, bis das Fleisch des Huhns von den Knochen fiel. Dann kostete er wieder, sprach ein Gebet in Gälisch, faltete die Hände vor der Brust, wie man es in Indien tut, und dankte den Göttern und allen Anwesenden mit einem Namastée. Dann lud er alle ein, gemeinsam zu essen, und alle waren begeistert und wurden satt."
"Dann war das aber eine Gemüsesuppe mit Fleischeinlage..."
"Das war Steinsuppe - mit ein paar Zutaten."
Tom zupfte ein Büschel Tabak aus dem Zellophanbeutel, verteilte ihn auf einem Papierblättchen, rollte das Blättchen mit dem Tabak zusammen, benetzte die Gummierung des Blättchens mit der Zungenspitze, schloss dann das mit Tabak gefüllte Papierröllchen mit einem Fingerstrich, knipste die an den Enden überstehenden Tabakfäden mit den Nägeln von Daumen und Zeigefinger ab, steckte das Röllchen zwischen die Lippen, blickte jetzt auf und sah sich einem Dutzend auf ihn gerichteter Augenpaare gegenüber. Jemand gab ihm Feuer. Tom inhalierte den Rauch der verbrennenden Krümel und ließ ihn durch die Nase wieder austreten.
Es war ein fast andächtiger Moment, bis Hugo das Schweigen brach. "Und - Machst du jetzt Suppe?"
"Kennst du den Unterschied zwischen Physik und Metaphysik?"
Barbara schwieg.
"Machst du Steinsuppe?"
"Nein," sagte der Tom.

© Joachim F. W. Lotsch (18323 zeichen)

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